Das Haus am Meer


Kurzes Melodram

29. Januar 2022

ca. 12 Seiten

„Marc? Marc, bist du da?“

Meine Stimme klang zaghaft. Ich hatte Beklemmungen, dass er hinter der Tür auftauchen könnte und ich alles nur geträumt hatte, Sorge, in sein Leben einzudringen, nicht willkommen zu sein. Ich bekam eine Gänsehaut. Mir war kalt. Instinktiv drehte ich mich um. Stand da jemand hinter mir? Eine alte Angewohnheit, aus dem Gefängnis: Vertraue niemandem. Kein Mensch weit und breit und doch bereitete mir die Ungewissheit, das Unbekannte Angst.

„Marc?“

Hier ruhte seine Seele, hier hatte er sein Leben verbracht und es war sein Wunsch, dass ich herkam. Warum? Keine Ahnung. Fast dreißig Jahre hatten wir uns nicht gesehen, nicht miteinander gesprochen, einander nicht geschrieben, außer diesem einen Brief, den er mir geschickt hatte.

War die Tür verschlossen? Er hatte mir versichert, sie stünde offen, wenn ich eines Tages käme. Er hatte mich nie aufgegeben. Oh, Marc…

Ich drückte fester, der Griff in meiner Hand drohte abzubrechen, so lose war er, so ausgeleiert. Wie oft hatte er ihn benutzt? Ich versuchte es erneut, etwas beherzter, bis sie endlich, mit einem klackenden Geräusch aufsprang. Ich zögerte. War es richtig, herzukommen? Vom Zwiespalt der Vergangenheit zerrissen hatte ich Angst vor den Folgen meiner Entscheidung, wie damals: Hätte ich es doch niemals getan.

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Copyright by © Thomas Koepcke

(Bildnachweis: https://pxhere.com/fr/photo/1133583)

 

Eine gemeinsame Liebe, geschaffen für die Ewigkeit,

ein einziger grausamer Moment,

der alles veränderte.

Dann folgten dreißig Jahre Endlosigkeit.

Auf einmal war sie zurück. 

Die Magie des Augenblicks.

Genau wie er es beschrieben hatte.

 

*

Immer wieder Elvin´s Guitar Blues. Schon den ganzen Tag klang dieses Lied in meinen Ohren. Ich liebte die bisweilen etwas melancholische Stimmung, die Gitarre, Saxophon und Kontrabass bei mir hinterließen. Sie beruhigte meine angekratzte Seele, während ich mich auf das Haus zu bewegte, ohne zu wissen, warum.

Aus der Ferne betrachtet hatte es Stil, zweifellos. Etwas in die Jahre gekommen trotzte es Wind und Wetter und ich bildete mir ein, es hätte auf meinen Besuch gewartet. Einsam und verlassen stand es in der Weite der rauen Küste, darum bemüht, nichts von seiner Schönheit herzugeben. Ich sah hoch zu dem kleinen Balkon, der die Veranda überspannte. Die Fenster oben waren intakt. Von der Farbe, die einst die Rahmen zierte, war nur wenig übriggeblieben. Im Hintergrund hörte ich die Wellen rauschen, wie sie rhythmisch gegen die Felsen schlugen. Die Flut kündigte sich an. Ich sah mich um, kein Mensch weit und breit. Es dämmerte und der Mond zeigte zaghaft seine Kontur. Erste Sterne waren zu sehen. Der Himmel war klar und es würde eine kalte Nacht werden, obwohl es im Moment windstill und angenehm warm war. In ein paar Tagen würde der  Vollmond die Nacht in gleißendes Licht einhüllen. 

Warum war ich überhaupt hergekommen? Seinetwegen?

„Marc?“

Ich rief seinen Namen. 

Ich stieg die wenigen Stufen zur Veranda hoch und öffnete die Fliegengittertür. Sie knarzte, wie in einem alten Film. Der Griff der Haustür war abgenutzt und blank. Etwas lose und leicht schräg hing er in seiner Verankerung, ausgeleiert und vom Leben gezeichnet. Alles kam mir fremd vor. Ich klopfte an die Tür. 

„Marc?“

Warum rief ich immerzu seinen Namen? Würde er gleich in der Tür erscheinen, mich in den Arm nehmen und wir dort weitermachen, wo vor dreißig Jahren alles mit einem Schlag aufgehört hatte?

„Marc? Bist du da?“

Sein Geist war da, ohne Zweifel. 

Erneut sah ich mich um. Mein Blick fiel auf die Korbstühle, die ihren Stammplatz rechts unter dem Fenster hatten, etwas abseits, und längst aufgehört hatten, einladend zu wirken. An ihnen war das Leben ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen. Sie standen um einen kleinen abgerundeten Holztisch herum, dessen Oberfläche trotz der Staubschicht einen leichten Glanz vermuten ließ. Ich wischte zaghaft mit der Hand darüber und es kam schwarz glänzender Granit zum Vorschein. Er erinnerte mich an einen Tisch, den ich schon einmal gesehen hatte, keine Ahnung, wo. 

„Marc?“

Nichts rührte sich, alles war still, friedlich, nur das Rauschen der Wellen war zu hören. Ich ließ den Blick über die Veranda in die Ferne schweifen, bis mein Körper sich wie von einem Magneten angezogen zur Tür bewegte. 

Erneut öffnete ich – vom Knarzen begleitet – die Fliegengittertür und klopfte an die Tür dahinter, die frisch gestrichen aussah. Keine Reaktion. Ich drehte den kühlen wackeligen Messinggriff. Die Tür hakte. 

„Marc? Marc, bist du da?“

Meine Stimme klang zaghaft. Ich hatte Beklemmungen, dass er hinter der Tür auftauchen könnte und ich alles nur geträumt hatte, Sorge, in sein Leben einzudringen, nicht willkommen zu sein. Ich bekam eine Gänsehaut. Mir war kalt. Instinktiv drehte ich mich um. Stand da jemand hinter mir? Eine alte Angewohnheit, aus dem Gefängnis: Vertraue niemandem. Kein Mensch weit und breit und doch bereitete mir die Ungewissheit, das Unbekannte Angst.

„Marc?“

Hier ruhte seine Seele, hier hatte er sein Leben verbracht und es war sein Wunsch, dass ich herkam. Warum? Keine Ahnung. Fast dreißig Jahre hatten wir uns nicht gesehen, nicht miteinander gesprochen, einander nicht geschrieben, außer diesem einen Brief, den er mir geschickt hatte.

War die Tür verschlossen? Er hatte mir versichert, sie stünde offen, wenn ich eines Tages käme. Er hatte mich nie aufgegeben. Oh, Marc…

Ich drückte fester, der Griff in meiner Hand drohte abzubrechen, so lose war er, so ausgeleiert. Wie oft hatte er ihn benutzt? Ich versuchte es erneut, etwas beherzter, bis sie endlich, mit einem klackenden Geräusch aufsprang. Ich zögerte. War es richtig, herzukommen? Vom Zwiespalt der Vergangenheit zerrissen hatte ich Angst vor den Folgen meiner Entscheidung, wie damals: Hätte ich es doch niemals getan. 

*

Ich hörte Musik, Kinderstimmen, jauchzen und quietschen, lachen und schreien. Sie rannten an mir vorbei, ich wich zur Seite aus – sie sahen mich nicht – und spielten fangen, durch die Räume, immer im Kreis, niemand schimpfte. Marc saß nur da in seinem weißen Leinenhemd, die Hornbrille stand ihm. Ich kannte sie gar nicht. Er las in einem Buch und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Er schüttelte murmelnd den Kopf und doch hatte er seine helle Freude. 

„Kinder.“

Mehr sagte er nicht. 

Dann war es still um mich herum.

Ich hielt einen Brief in der Hand. Er war von ihm. Wie oft hatte ich ihn gelesen, keine Ahnung, hundert Mal? Er war abgegriffen, die Falten mürbe, Flecken von Tränen, die ich vergossen hatte, unzählige Male, fast dreißig Jahre lang. Ich kannte ihn auswendig.

Meine liebste Aurelie,

Dieser Ort ist wie Magie. Ich wünschte, du könntest ihn sehen. Die Sonne scheint, der Himmel ist hoch und die Weite endlos. Die Kinder toben im Haus und im Garten, der in Wirklichkeit gar keiner ist. Wir nennen ihn nur so, weil er nach hinten zum Meer hinaus liegt. Eine riesengroße Wiese, die bis zu den Klippen ragt. Alle sind da, Julie, Patrice, Bernhard, bester Laune, selbst Maman und Agnes sind da. Stell dir vor, sie sind extra aus der Stadt gekommen. Ich begreife es nicht. Agnes, das weißt du gar nicht, bekommt ein Baby. Und sie heiratet diesen Ganoven. Luc, erinnerst du dich?

Ich sah in Gedanken, wie er ungläubig den Kopf schüttelte.

 Sie und Luc Junot, ein Paar. Er ist nett, gebildet, hat in der Familie Eindruck hinterlassen. Was soll man davon halten? Ach Aurelie, könntest du doch hier sein.

Immerzu schaute ich in sein Gesicht, wie er lachte, sich freute, seine Sehnsucht, vor allem den Schmerz darüber, dass wir getrennt waren. Das einte uns. Es brauchte nur wenige Worte, und schon war ich bei ihm, mitten drin in seinem Leben, keine Ahnung warum. Wir waren seelenverwandt.

Stell dir vor, Onkel Pierre, erinnerst du dich an ihn? Er war hier, vor zwei Wochen. Es war seine letzte Reise. Er hat uns alle hierher eingeladen. Ich hatte keine Ahnung, dass er dieses Haus besaß. Wir waren beim Notar, Maître Duvel, Onkel Pierres ausdrücklicher Wunsch, obwohl Maman Bedenken hatte, ich weiß nicht, warum. Er hat uns das Anwesen überschrieben. Das hatte er sich immer gewünscht. Dann, am nächsten Morgen, war er tot. Siebenhunderttausend Franc hat er uns hinterlassen, und das Haus am Meer. Wir müssen uns in Zukunft keine Sorgen mehr machen. Aurelie, hörst du? Nie wieder. Ich wünschte mir so, dass du hier wärst.

In Liebe

Marc

P.S.: Wann, Aurelie, werden wir uns wiedersehen? Ich werde da sein.

*

Er war so naiv, dieser Traumtänzer, dieser unschuldige, liebenswürdige Idiot, ich hasse ihn, verabscheue ihn dafür, dass er so rein war, so gütig und unerschütterlich in seiner Art, mir, einer Mörderin, zu vertrauen. Warum, Marc? Du hattest es nicht verdient, so gedemütigt zu werden.

Ich hatte ihm nie gesagt, dass ich zwei Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Er hätte es nicht verkraftet. Die einzige Möglichkeit war, ihn zu verlassen. Er hat mich nie aufgegeben. Jetzt stand ich vor seiner Tür, die auf dem Papier auch meine war, und hatte Angst. Vor diesem Menschen, der zu gut für eine Doppelmörderin war, dreißig Jahre, nachdem er mir diesen Brief geschrieben hatte, den einzigen. Nicht weil ich im Gefängnis saß, davon wusste er nichts. Ich hatte nie geantwortet. Es schmerzte.

Der Knast war ein Albtraum. Ja. Aber ich hatte kein Recht, mich zu beschweren. Obwohl diese Schweine mir meine Seele nehmen wollten, – wie ein Stück Vieh wurde man dort behandelt – hatte ich es verdient. Ich hatte die Strafe abgesessen, dreißig lange Jahre. Hatten mich die Morde zu einem anderen Menschen gemacht? Nein, und ja. Ich war dieselbe Person. Doch im selben Moment war nichts mehr wie vorher. Es fühlte sich falsch an. Ein Zurück gab es nicht. Jeder hatte das Recht, über mich zu richten, die Täterin. Damit war alles gesagt. Zum Abschuss freigegeben. Dass ich den Rest meines Lebens mit der Last zu kämpfen hatte, spielte keine Rolle. Ich war das Monster, dass schon immer eine dunkle Seite hatte. Wie sonst wäre ich zu so etwas fähig gewesen? Eine Minute vorher hätte ich geschworen, ein ehrlicher und aufrichtiger Mensch zu sein. Sekunden später glaubte nicht einmal ich daran.

*

Ich trat ein. Die Dämmerung ließ das gedeckte Licht der untergehenden Abendsonne durch die Fenster herein. Ein wenig Staub schwebte schwerelos schimmernd durch die Luft. Ich traute meinen Augen nicht. Alles wirkte intakt, sauber, gemütlich. Als hätte Marc gestern erst das Haus verlassen. Von den Spuren von Wind und Wetter gezeichnet, von Ebbe und Flut, von den Jahreszeiten und dem Leben, so wirkte es von außen, hier drinnen war sein Geist allgegenwärtig. Es nahm mir fast den Atem. 

Ehrfürchtig bewegte ich mich den Flur entlang. Links lag die Küche. Die Tür stand offen. Es war halb dunkel. Ich suchte nach dem Schalter. Gab es Strom? Doch zu meinem Erstaunen erschien der Raum in hellem Licht. Die Einrichtung war modern, funktionell, keineswegs alt.

„Marc?“

Erneut überkam mich eine Gänsehaut. Ich war verwirrt. Von der Küche gelangte man ins Esszimmer und von dort in ein großzügiges Wohnzimmer. Große bodentiefe Fenster ließen die untergehende Sonne den Raum in einem speziellen Licht erscheinen. Ich hatte mich spontan verliebt. Dennoch, irgendetwas stimmte nicht. 

Mittlerweile stand ich vor der Terrassentür, den Blick auf das Meer gerichtet, ohne zu verstehen, wo ich war. Die Weite nahm mir die Orientierung.

Ich hörte Geräusche, zuckte zusammen. Kamen sie von draußen, von der Tür? Keine Ahnung. Alles war ungewohnt. 

„Marc?“ 

Nichts. Ich versteckte mich hinter der Tür, ohne genau zu wissen, wovor ich Angst hatte. Die Wand im Rücken gab mir Sicherheit. Verdammt. Ich, die zwei Menschen auf dem Gewissen hatte und fast dreißig Jahre im Gefängnis gesessen hatte, stand zitternd hinter der Tür in meinem eigenen Haus. Und doch war alles fremd und unheimlich.

Wovor zum Teufel hatte ich Angst?

Dann hörte ich erneut ein Geräusch. Es waren die Fußbodendielen, die knarzten, ein Schlüssel, der auf ein Bord gelegt wurde, Schritte und Stimmen. Für einen Moment war es still. Durch den Schlitz zwischen Rahmen und Tür sah ich, wie ein junger Mann eintrat, gefolgt von einer jungen Frau. Sie wirkten harmlos. Ihr Anblick war beruhigend. Dann traf mich der Schlag!

*

„Hallo?“

Ich hörte Stimmen. Eine Frauenstimme und die eines Mannes.

„Hallo? Um Gottes Willen, …“

Ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen. Unter mir war es hart. Ich lag auf einem Teppich oder etwas in der Art. 

„Hallo! Wachen sie auf. Sie reagiert nicht! Wir müssen einen Arzt rufen.“

„Warte. Sieh mal, sie bewegt die Finger. Da, sieh…“

Irgendjemand schlägt mich, ich bekomme eine Ohrfeige. Warum?

„Hej, wachen Sie auf. Sie sind…“

„Marc?“

Ich hatte es gewagt, hatte die Augen geöffnet. Das Gesicht eines Mannes sah mich an. Es war seins.

„Marc?“

„Ich bin nicht Marc. Ich heiße Stephane. Wer sind Sie?“

„Um Gottes willen, Marc.“

Ich versuchte, eine Hand auszustrecken, sein Gesicht zu berühren. Das war unmöglich.

„Marc.“

„Sie verwechseln mich. Ich bin Stephane, nicht Marc. Er ist…“

Dann stockte die Stimme. 

Er sah aus wie Marc, sicher. War ich im Jenseits und sponn mir hier eine Geschichte zusammen? Ich war tot, genau, mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. Dann hörte ich wieder ihre Stimmen. Sie kamen mir bekannt vor. Klar, ich hatte sie eben erst gehört.

„Sie lächelt, siehst du?“

„Wer ist sie?“

„Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.“

Ich öffnete die Augen.

„Hol ein Glas Wasser. Sie kommt zu sich. Vielleich hat sie Durst. Können Sie mich hören?“

Klar. Ich bin doch nicht taub. Das hätte ich am liebsten geantwortet.

Stattdessen sagte ich nur: 

„Ja.“

Mein Mund war ausgetrocknet.

Der junge Mann half mir hoch und ich nahm seinen Geruch wahr. Er roch wie Marc. Er sieht aus wie Marc. Warum zum Teufel ist er nicht Marc?

„Trinken Sie einen Schluck. Das wird Ihnen helfen. Sie sind ohnmächtig geworden.“

Klar, Schätzchen, bei dem Anblick eines Toten kein Wunder, oder?

„Danke. Sehr nett von Ihnen.“

Wir sahen uns an, als hätten wir beide lange Zeit keinen anderen Menschen gesehen. Lag das an der Einsamkeit? So lebte doch in Wahrheit niemand. Und obwohl ich ein Lächeln auf dem Gesicht hatte, keine Ahnung, warum, lief mir eine Träne die Wange hinunter.

Ich sah den jungen Mann an. Seine Ähnlichkeit war verblüffend. Dann hörte ich seine Stimme. Es war die von Marc.

„Was hast du da?“

„Sieh mal, …“

Die junge Frau hatte ein Foto in der Hand, dass sie irgendwo hergeholt hatte. Sie war blass. Ihr Gesicht wirkte ernst, fast ein wenig verstört.

„Siehst du, was ich sehe?“

„Was?“

„Sieh hin, sieh genau hin.“

Ungläubig sah er erst zu ihr, dann auf das Foto. Es war ein altes Bild seines Vaters mit einer jungen Frau neben sich und einem Baby auf dem Arm.

„Au…relie?“ 

Er zögerte. Seine Augen wurden glasig.

„Maman?“

Es war wie Magie. So hatte er es gesagt.

Ende.

Senden, 29.01.2022