Die dunkle Seite der Nacht
Der erste Fall für Sanda Wagner
Kurzer Psychokrimi
(unbearbeiteter Rohtext!)
Thomas Koepcke
Mai 2022
Copyright by ©Thomas Koepcke
Eine grausame Mordserie.
Ein biederer Kaufmann.
Eine Stimme, die niemals schlief.
Hermann Gutenberg, 38 Jahre alt, Kaufmann aus Leidenschaft, war ein guter Mann. Nicht sehr auffällig, schon gar kein Held, aber zufrieden mit sich und seinem Leben.
Bis er ihre bitter süße Stimme hörte. Dann war er ein Anderer. Niemand konnte ihn stoppen. Dann musste eine sterben…
Der erste Fall für
Sandra Wagner,
die junge Kommissarin
aus der Küstenstadt Bremerhaven
Prolog
Es war die Stimme in ihm, die ihn seltsame und grausame Dinge tun ließ. Dinge, die sein sichtbares Ich, sein biederes und gutes Ich, niemals verstehen würde, erst recht nicht tun würde.
Er hasste es, wenn sie auftauchte und von ihm Besitz ergriff. Widerwillig sträubte sich seine gute Seele, und gleichzeitig willenlos, fast kampflos gab sie sein Hirn für die andere Seite frei, die dunkle Seite. Dann übernahm sein anderes Ich und folgte ihrer Stimme, weil es so sein musste. Dann war er ein Anderer.
Dinge, die sein gutes Ich hasste, zogen ihn plötzlich an. Eigenständigkeit verwandelte sich in Hörigkeit und Freizügigkeit in Zwanghaftigkeit, alles ihr zuliebe. Dann galten andere Gesetze. Dann musste eine sterben. Er konnte nichts dagegen tun. Sie befahl es ihm. Es war die innere Stimme, ihre Stimme, die in seinen Kopf eingezogen war und die ihn in ihren Bann zog, wann immer sie das wollte. Dann gab es kein zurück. Er war dann willenlos. Bis sie ihn losließ, wenn er gemacht hatte, was sie wollte und sie zufrieden war. Für eine Zeit, die immer schneller lief, Abstände, die immer kürzer wurden, Ereignisse, die seinen Körper immer härter in Anspruch nahmen, bis er aufgab. Doch das würde er, Hermann Gutenberg, niemals tun und das wusste sie.
Sie würde wiederkommen, immer und immer wieder. Sie würde auf ihn aufpassen. Und: Sie schlief nie. Das hatte sie ihm versprochen.
1
„Was für ein Wetter, was für eine geile Runde”. Sie war noch ganz beseelt von dem Lauf, der heute besonders viele Endorphine in ihrem wohlgeformten Körper freigesetzt hatte. Die Bilder der letzten anderthalb Stunden liefen wie in einem Fotorückblick vor ihrem geistigen Auge vorbei, eines schöner als das andere, während David Bowie im Hintergrund sein Bestes gab.
“Let’s dance
Put on your red shoes and dance the blues
Let’s dance
To the song they’re playin‘ on the radio…”
Von ihrer Wohnung am Neuen Hafen war sie den Deich nach Norden um die Hafenbecken von Verbindungs-, Kaiser- und Dockhafen herumgelaufen. Sie liebte die Kulisse des Industriehafens, die alten Brücken und die Dimensionen der großen Car Carrier, aus deren Bauch bis zu 6000 Autos heraus- und anschließend eine neue Lieferung wieder hineingefahren wurden. Roll on, roll off. Über die alten Schleusen ging es zurück am Tiergrotten entlang bis zum Leuchtturm und zurück. Und dann noch dieses Wetter. Besser konnte ein Tag nicht beginnen. Die Augen geschlossen, das Gesicht in den endlos erscheinenden sanften Wasserfall des überdimensionalen Duschkopfes gerichtet konnte ihr niemand etwas anhaben. Sie war in Sicherheit und sie war unschlagbar.
Sie öffnete die Glastür der Dusche, nahm eines ihrer Lieblingshandtücher von der Ablage, entfaltete es und hielt es sich mit beiden Händen vor das Gesicht, während sich das weiche Frottee an ihren nassen Körper schmiegte. Sie hielt einen Moment inne und genoss das Gefühl wohliger Wärme. Tropfen ihrer noch nassen Haare folgten der Schwerkraft und glitten schmeichelnd ihren Rücken hinunter. Unterbewusst folgte ihr Körper der Musik. In dem vom heißen Dampf der Dusche beschlagenen Spiegel konnte sie kaum die Konturen ihres Gesichtes erkennen. Mit dem Zeigefinger malte sie sie nach, sichtlich zufrieden mit ihrer Entscheidung, es bei einem lächelnden Smiley zu belassen. Ihre künstlerischen Fähigkeiten waren ausbaufähig.
Die Musik hallte vom Badezimmer über den kleinen Flur bis ins Wohnzimmer und erfüllte die hell erleuchteten Räume mit einer Ausgelassenheit, die sie schon lange nicht mehr so intensiv gespürt hatte. Das weiße Frotteehandtuch um ihren noch nassen Körper gewickelt, den Dampf der heißen Dusche wie einen Schweif hinter sich herziehend tanzte Sandra Wagner leichtfüßig in Richtung Schlafzimmer, während ihre nassen Fußspitzen den Rhythmus ihrer Leidenschaft auf dem Parkett zu verewigen versuchten.
„I’ll run with you
And if you say hide
We’ll hide
Because my love for you
Would break my heart in two
If you should fall into my arms
And tremble like a flower”
Erneut liefen kleine Wassertropfen von ihren kurzen, wild und vergnügt vom Kopf abstehenden Haarspitzen tropfend ihren Hals hinab, verschmolzen mit Ihresgleichen zu größeren Tropfen und umgarnten jeder für sich liebkosend ihre Schultern, um dann mit der Endlichkeit des Frottees zu verschmelzen, während sie sich im Takt der Musik auf ihren Kleiderschrank zubewegte.
Let’s dance
For fear your grace should fall
Let’s dance
For fear tonight is all
Let’s sway
You could look into my eyes
Vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer blieb sie stehen, öffnete das Handtuch, ließ es gekonnt zu Boden gleiten und betrachtete, den Kopf leicht zu Seite geneigt, das Spiegelbild ihres vom Sonnenlicht angestrahlten Körpers. Bisher hatte er sie niemals im Stich gelassen. Auch nicht damals, vor zwei Jahren, als es sie kalt erwischt hatte. Sie drehte ihre linke Schulter so, dass sie die Narbe sehen konnte, die die Kugel hinterlassen hatte. Dieses Projektil hatte sie vor noch Schlimmerem bewahrt, vielleicht sogar vor dem Tod. Anders als bei ihren beiden Kollegen, von denen der eine, Ben, der Ältere, noch am Tatort gestorben war und Phil, der kurz vorher erst seinen achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, von da an im Rollstuhl saß. Die bittere Realität von Polizeiarbeit, die nur wenige wirklich zu Gesicht bekommen. Erneut sah sie auf die Narbe. Sie lag für Sandra Wagner wie ein Mahnmal über der Vergangenheit und besiegelte das Ende eines wichtigen Kapitels ihres Lebens. Sie ließ ihre Hand sanft und demütig darüber gleiten und genoss das Gefühl, auch wenn es zwiespältig war und ihr immer wieder Gedankenblitze bescherte, die das Erlebte lebendig zu halten versuchten. Doch auch das hatte sie gut in den Griff bekommen. Schlussendlich hatte sie diesen Körper wieder in Form gebracht, denn auf ihn musste sie sich verlassen können. Er war ihr Kapital, auch wenn er nicht makellos war. Sie musste kurz an Frau Dr. Fischer denken, die Polizeipsychologin. Sie hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass Sandra Wagner ihre innere und äußere Stärke wiedergefunden hatte.
Let’s sway
Under the moonlight, this serious moonlight
And if you say run
I’ll run with you
And if you say hide
We’ll hide…
Sie sang diese Worte mit Inbrunst in den Tag hinein und wusste, dass sie sich niemals verstecken würde.
Nachdem sie den Tag gemütlich damit verbracht hatte, zuhause ein paar Akten abzuschließen, bei denen noch kleine Ergänzungen fehlten, sah sie auf die Uhr. Sie hatte nichts mehr vor. Ihr Magen knurrte. Sie würde etwas vom Chinesen kommen lassen, sich einen Film ansehen und früh zu Bett gehen. Eine tolle Aussicht, diesen Tag ausklingen zu lassen. Plötzlich klingelte das Telefon.
2
Hermann Gutenberg genoss die von gelborange ins blutrot wechselnden Farben des Sonnenuntergangs. Schon den ganzen Tag war der Himmel von einem Blau gewesen, das man hierzulande schon fast nicht mehr für möglich gehalten hatte. Der Winter mit seinen ewig grauen Wolken war einem in diesem Jahr besonders lang und nass vorgekommen. Der Wind hatte den Regen quer durch die Luft gefegt, ein Entkommen war kaum möglich gewesen. Wer raus musste, wurde nass. Wenn man den falschen Moment erwischt hatte, sogar bis auf die Knochen. Ein Februar mit 25 Regentagen, das sagte alles. Dann noch die Sturmflut, Gott sei Dank war sie nicht so schlimm gewesen wie befürchtet. Und heute? Den ganzen Tag Sonne, einfach herrlich.
Der Kellner kam und verdeckte mit seiner breiten Statur für einen kurzen Augenblick die Sicht durch das große Panoramafenster des Restaurants auf das gegenüberliegende Nordenham, wo der feuerrote Ball langsam hinter dem Horizont versank.
„Ziemlich ruhig heute Abend.“
Das Restaurant war ziemlich leer, sehr ungewöhnlich für einen Samstagabend. CoVid-19 hielt viele Menschen davon ab, rauszugehen. Wenn man ihn, Hermann Gutenberg, fragte, Schwachsinn. Er glaubte nicht an die sich anbahnende Hysterie.
Der Kellner machte eine zustimmende Geste, nachdem er den Espresso auf den Tisch gestellt hatte, sagte ansonsten aber nichts. Er schien nicht sehr glücklich darüber zu sein, dass die Kunden ausblieben. Dass es noch viel dramatischer werden und man im freiheitsliebenden Deutschland der 2020er Jahre über einen Lockdown, eine Ausgangssperre und Lokalschließungen nachdenken würde, hielt bis dato niemand wirklich für möglich, noch nicht. Hermann Gutenberg erst recht nicht. So etwas gab es nur in China.
Ihm fiel zum wiederholten Mal die ungewöhnliche Frisur des Kellners auf. War es das künstlich wirkende, fast schon zu dunkle schwarz seiner offensichtlich gefärbten und wild abstehenden Haare, das nicht so richtig zu dem eher durchschnittlich wirkenden Mann passen wollte? Es erinnerte ihn an Boris Johnson in schwarz, „den unangefochtenen Helden des Brexit“, wie er dachte, „zumindest scheint das die Mehrheit der Briten eine Zeit lang geglaubt zu haben“.
„Die Rechnung bitte.“
„Sehr gerne.“
Der Kellner, der auf den ersten Blick kaum wirklich Notiz von ihm genommen hatte, würde sich später noch gut an ihn erinnern, was bei den wenigen Gästen heute Abend keine Kunst sein dürfte.
Wieder sah er in die untergehende Sonne, die sich im noch unruhigen Wasser spiegelte, und überlegte, was der heutige Abend noch bringen würde. Unter Leute zu gehen, war nach den Warnungen und Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes eher nicht angebracht. Die Virologen hatten zunehmend das Sagen und die Politik sah zu ihnen auf, unsicher, unwissend und noch unentschlossen, welcher Weg der Richtige sein würde. Unterbrechung der Infektionsketten! Eine Aussage, die man in den kommenden Tagen und Wochen noch sehr häufig zu hören bekommen würde. Hermann Gutenberg schüttelte den Kopf und beglich die Rechnung.
3
Er war zufrieden mit sich und seiner Welt, als er das Restaurant durch die im Abendlicht schillernde Glastür verließ. Sie lag auf der dem Wind abgewandten Seite in Richtung Fernsehturm. Einer Eingebung folgend bog er kurzerhand links um die Ecke zu der menschenleeren Terrasse. Von dort aus hatte man freie Sicht auf den sich am Ufer der Weser entlangschlängelnden Deich und die wunderschön beleuchtete Industriekulisse auf der anderen Seite des Flusses. Er genoss den letzten Rest des Sonnenuntergangs. Sein Blick wanderte in Richtung Mündung, wo der Fluss breit und offen in die Nordsee mündete. Die Flut kam, dass spürte er, als er sah, wie schnell der vorbeifahrende Frachter flussaufwärts fuhr.
Einen Moment lang blieb er stehen, schloss die Augen, und wollte gerade den leichten Abendwind genießen, als er plötzlich einen Stich in der Magengegend spürte. Es ging ihm schlagartig durch Mark und Bein. Eine Stimme flüsterte ihm etwas zu. Er hielt die Luft an und sackte nach innen gekrümmt zusammen, um dem Schmerz zu entkommen. Er verstand die Stimme nicht. Es war eine Frauenstimme. Der Schmerz strahlte bis in den Schritt hinunter, dann über den Rücken hoch bis in den Nacken, um ihn dort mit einem harten Griff zu packen wie einen räudigen Hund und zwang ihn schließlich in die Knie. Es war als hätte ihm jemand ein Messer in den Unterleib gestoßen. Sein Körper krümmte sich und irgendetwas entriss seinen Verstand der Wirklichkeit. Dann, genauso plötzlich, erschlaffte er wieder, ohne zu begreifen, was geschehen war. Er keuchte vor Erschöpfung, biss die Zähne aufeinander und gab ein undefiniertes Stöhnen von sich. Der Schmerz ließ nach.
Verwirrt und überfordert versuchte er erneut zu verstehen, was gerade passiert war. Es gelang ihm nicht.
Dann hörte er einen erstickenden Schrei, ein krampfartiges Ächzen, wie aus der Ferne. Der Schmerz war zurückgekehrt, noch erbarmungsloser als beim ersten Mal. Die Stimme flüsterte, er konnte sie nicht verstehen. Was wollte sie? Warum…
Dann erneut infernalen Krämpfe. Drei-, viermal hintereinander, in Schüben, immer dasselbe Spiel. Er hielt die Luft an. Seine Augen quollen vor Anstrengung hervor. Er wurde beinahe ohnmächtig. Dann ein Zischen, das in ein Fauchen überging. Er hielt sich die Ohren zu, doch es wollte nicht aufhören. Absurde Gedanken, ausgelöst durch irgendwelche irregeleiteten Hirnströme, die er nicht kontrollieren konnte, übernahmen die Steuerung über seine Sinne, kaum dass er die Augen geschlossen hatte. Er sah einen weißlichen Dämon, der ihn durch die Luft wirbelte. Kaltfeuchter Nebel umgab ihn, der unversehens von einer heftig kreisenden Windböe zerzaust wurde, und ihn aufsaugte, um ihn anschließend sofort wieder auszuspucken, als sei er ein jämmerliches Nichts. Erschrocken und in Panik sah er sich aufspringen und die Flucht ergreifen, durch den kalben Nebel rennen, der unversehens aufgezogen war, wie von einem Magneten gehalten gegen den Widerstand ankämpfend, ohne vorwärts zu kommen. Ein Kampf Eins gegen Eins. Es ging um sein Leben. Was wollte die Frau? Woher kam sie so plötzlich? Er musste kämpfen, durfte nicht aufgeben. Du musst kämpfen. Er hörte sie lachen. Für einen kurzen Moment blitzte die blasse Haut der blonden Frau auf. Sie war stärker als er. Und sie lachte ihn aus, weil er versagt hatte. Dann ließ sie ihn liegen und verschwand im Nebel. Doch ihr Lachen blieb.
Er kam wieder zu sich, erkannte die Terrasse vor dem Restaurant. Eigenartig verrenkt saß er auf dem Boden und spürte etwas Hartes im Rücken, ohne zu verstehen, dass es das Metallgeländer war. Der Stich! Intuitiv griff er sich an seinen Bauch, fest davon überzeugt, zu verbluten. Er sah auf seine Hand. Nichts. Auch der Schmerz war weg. Dann sah er hoch, doch da war niemand. Er dachte an die Frau. Eine Gänsehaut überkam ihn, als würde sich der kalte Schatten des Dämons auf seinem Körper niederlassen, eingehüllt in den Mantel einer Windböe. Er hatte offensichtlich jegliches Gefühl für die Realität verloren. Dann endlich war es vorbei.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er rappelte sich hoch. Sein Blick schweifte über die Weser, von Nebel keine Spur, dem Horizont entgegen, Ausschau haltend nach dem Dämon, geleitet von der fast blutroten Farbe des Himmels, doch da war nichts, keine Antwort, keine Erklärung, nichts außer dem scheidenden Licht der untergegangenen Sonne. Es war ihm peinlich, wie er da auf dem Boden kauerte. Diese Demütigung. Schließlich spürte er die kühle, reine Abendluft des ersten Märzsamstags und schmeckte plötzlich einen Rest Espresso, den seine Zunge irgendwo im hintersten Winkel seines Gaumens aufgespürt haben musste und ihm das Gefühl von innerer Wärme zurückgab. Eingeschüchtert sah er sich zur Glasfassade des Restaurants um. Zwei Paare saßen noch an ihren Tischen, mit ihrem Essen beschäftig, offenbar ins Gespräch vertieft, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Sonst war niemand da. Auch nicht der Kellner mit der komischen Frisur. Gott sei Dank.
Dann fiel sein Blick auf sein Fahrrad und, der Teufel wusste, warum, offenbar geleitet von einer inneren Stimme, die es ihm zu befehlen schien, verließ er wie in Trance die Stadt, den Deich entlang, flussabwärts Richtung Wremen, als wäre er die Strecke schon einmal gefahren. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Fahrrad unverschlossen dagestanden hatte, obwohl er es abgeschlossen abgestellt hatte.
4
Als er den Containerhafen hinter sich gelassen hatte, spürte er plötzlich den kalten Fahrtwind und schreckte hoch. Erst jetzt registrierte er, dass er bereits etliche Kilometer gefahren sein musste. Er hatte keine Ahnung, wie er bis hierhin gekommen war. Warum fuhr er überhaupt in diese Richtung? Außerdem war es bereits stockdunkel geworden, auch das hatte er gar nicht wahrgenommen. Er stand auf dem Deich, ohne zu wissen, dass er Weddewarden bereits hinter sich gelassen hatte. Das einzige Licht, das ihm jetzt noch blieb, war das seiner Fahrradlampe. Der Kontrast zwischen dem unfassbar intensiven künstlichen Licht, das den Hafen über mehrere Kilometer fast taghell erscheinen ließ, und der unendlich erscheinenden Dunkelheit war so groß, dass er Schwierigkeiten hatte, die Konturen des einsamen Deichweges zu erkennen. Um diese Zeit führte noch nicht einmal mehr jemand seinen Hund Gassi. Er war allein. Der Mond war nicht zu sehen, vielleicht den ganzen Abend nicht, aber das war ihm egal. Im Dunkeln sah alles anders aus. Er war den Weg schon einmal gefahren, das wusste er, als wäre es erst heute gewesen. Doch jetzt hatte er das Gefühl, nicht nur in die Dunkelheit, sondern auch ins Unbekannte zu fahren. Das Einzige, woran er sich orientierte, war der Lichtkegel seines Scheinwerfers und die Schräge des Deiches. Wenn sie rechts von ihm anstieg, musste links von ihm der Fluss sein, zumindest solange er geradeaus fuhr. Irgendwann würde der Weg über die Deichkuppe auf die dem Wasser abgewandte Seite wechseln. Daran glaubte er sich zu erinnern.
Plötzlich wurde alles um ihn herum pechschwarz. Einzelne Blitze funkelten auf seiner Netzhaut. Sein Puls beschleunigte. Das durfte nicht sein, nicht schon wieder. Diesmal klopfte ihre Stimme nur kurz an seine Seele und ließ ihn dann wieder in Ruhe, doch sie würde wiederkommen, schon sehr bald, das spürte er. Erst jetzt registrierte er, dass er angehalten hatte, und wieder wusste er nicht, warum. Er tastete sich langsam weiter durch die Dunkelheit, bis nach einigen hundert Metern endlich ein Geländer auftauchte, das zu der Treppe gehören musste, die zur Deichstraße hinter dem Damm führte. Adrenalin schoss ihm in die Adern. Es passierte einfach, wie auf Knopfdruck. Sie kam zurück. Erneut versuchte er, sich zu beruhigen, die Anspannung zurückzudrängen. Sein Fahrrad an der rechten Seite, beide Bremsen fest im Griff, stakste er langsam gegen die aufkommenden Krämpfe ankämpfend die Treppe hinunter. Noch glaubte er, ihr standhalten zu können. Doch die innere Spannung nahm unaufhörlich immer weiter zu, diesmal allerdings langsamer, fast schleichend, als wollte sie ihn in dem Glauben halten, er könnte sie beherrschen. Er riss sich zusammen und bog schließlich nach links ab, dem Asphalt der Straße durch die Dunkelheit weiter folgend.
5
„Fahr … nicht … weiter“, hauchte die Stimme ihm plötzlich zu. „Kehr …. um … Es ist … noch nicht … zu spät.“
Doch das war es bereits.
Dann plötzlich sah er sie. Sie lag im Gras, halb im Graben, die Beine unnatürlich verrenkt, die Kleider zerrissen. Die helle Haut stach im Licht seines Scheinwerfers hervor. Er zitterte am ganzen Leib. Unfähig, den Blick vom Körper der Frau zu lösen, ließ Hermann Gutenberg sein Rad los und erschrak von dem scheppernden Krach, als es auf die Straße fiel. Die Frau hatte aufgehört zu lachen.
Sein Herz pochte wie wild. Sie war wieder da. Er konnte nichts mehr tun. Als würde er in eine andere Welt katapultiert, die schwarz war anstatt weiß, begann ein Horrortrip. Der eiskalte Schauer, der ihm erst den Rücken hinunter, über seine Genitalien bis in die Zehenspitzen und wie der Blitz zurück den Rücken hinauf bis in die Haarspitzen lief, versetzte ihn in einen frostigen, fast kristallinen Zustand. Dann wurde ihm schlagartig heiß. Sein Gesicht fing an zu brennen. Die Hitze kroch züngelnd den Hals empor wie Flammen auf seiner Haut, und verteilte sich über den ganzen Körper. Er krampfte, biss die Zähne zusammen, den Körper einem Urschrei nahe nach hinten gekrümmt, so als stemme er sich mit aller Kraft gegen die Anziehungskraft der Frau.
Intuitiv kam er näher und sah den anderen Teil ihres Gesichtes, der von ihren blonden Haaren bedeckt war. Sie klebten an ihrer Haut.
„Es … ist … dein … Werk.“
Das Licht seines Scheinwerfers macht das Dunkle dunkler und das Helle noch heller. Als gäbe es nur schwarz und weiß. Ihre Augen waren weit geöffnet. Die tiefschwarze Iris war von einem grellen Weiß umgeben, eingebettet in die bläuliche Blässe ihrer Gesichtshaut, als sähe sie ihn flehend, fast untertänig hingebend an.
„Ich … habe … sie … ausgewählt. Ist … sie … nicht … schön?“
Dann plötzlich war ihr Blick leer und versteinert. Ein Denkmal, für die Ewigkeit. Der Tod in Reinform. Er wusste nicht, warum ihm das so durch den Kopf ging. Aber es war so. Plötzlich begann er erst zu lächeln und dann kamen ihm die Tränen. Es war wie in dem Traum neulich, aus dem er schweißgebadet aufgewacht war. Er war so real gewesen. Oder war es gar kein Traum?
Er zuckte zusammen. Erneut lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Es ging ihm immer so, wenn er sie fand, allerdings wurde es mit jedem Mal heftiger. Er konnte es nicht aufhalten. Es passierte einfach. Er war, die Bilder der Realität fest vor Augen, die Sinne getrübt, mit Gefühlen, die krankhaft mit ihm Achterbahn fuhren, unterwegs in eine andere Sphäre. Eine schier endlos erscheinende Reise in unermesslichem Tempo riss ihn mit, erst hoch, dann in den Abgrund. Er war machtlos. Es schien kein Ende zu nehmen. Dann wiederholte sich alles, er wusste nicht wie oft. Doch diesmal würde er gewinnen, nicht wie früher, als er noch ein Kind war.
Irgendwann, ohne jegliches Zeitgefühl, kam schlagartig der Bruch, so als würde er aus einem Traum hochschrecken und gleichzeitig von einer langen, schweren Mission zurückkehren. Er, Hermann Gutenberg, der Mann der Stunde, erschöpft von den nahezu unlösbaren Aufgaben, die er zu bewältigen gehabt hatte. Held und Märtyrer zugleich. Seine Knie wurden weich. Für eine Sekunde oder mehr, er wusste es nicht, schien er das Bewusstsein zu verlieren.
Dann, wie durch einen heftigen Ruck erwachte er, ohne zu wissen, welches Ende seine Mission genommen hatte.
Er erschrak, sein ganzer Körper zitterte und vibrierte vor Anspannung, als hätte er gerade einen epileptischen Anfall gehabt. Die ganze Spannung verließ auf einen Schlag seinen Körper und schien eine schlaffe, formlose Hülle zurückzulassen. Ihm wurde schwindelig und er musste sich hinknien. Er hyperventilierte. Sein Gesicht war schweißnass und kalt. Dann kam die Hitze zurück, diese Flammen, er konnte es kaum aushalten, doch er, Hermann Gutenberg würde nicht aufgeben. Niemals. Dann kam das Unvermeidliche. Sein Verstand schleuderte ihn wie von Geisterhand durch die Gegend, beschleunigte, einem unbekannten Ziel entgegen, unaufhörlich und immer schneller. Der Dämon, er war wieder zurück. Oben wurde unten, links wurde rechts, es hatte kein System. Alles verlor seine Struktur. Was sollte er nur machen. Keine Chance. Dann: Unfähig, es noch länger hinauszuzögern, die letzten Kräfte mobilisierend platzte alles aus ihm heraus, als wären es seine Eingeweide. Er musste sich übergeben. Es war ein Höllenritt. Er riss ihn in den endlosen Abgrund, immer tiefer, und tiefer in die Endlosigkeit der Dunkelheit.
Als wäre sein Erinnerungsvermögen schlagartig ausgelöscht, wachte er erneut auf und registrierte, wie er da jämmerlich auf dem kalten Asphalt kniete, mit schmerzenden Händen, ohne zu wissen, was gerade mit ihm passiert war. Das Einzige, was blieb, war die Erinnerung an das galaktische Gefühlchaos, das sein Körper durchlebt hatte, die endlos lange Mission, von der er, Hermann Gutenberg, gerade als Einziger zurückgekehrt war, zurück in der Dunkelheit des Abends, am Deich im Wurster Land.
6
„Brav, mein kleiner, sagte die andere Stimme. Du warst so tapfer. Mein Held. – Brav, mein Kleiner, …“, immer so weiter, er wusste nicht, wie oft sie das sagte. Solange, bis er es endgültig glaubte. Dann war alles vorbei. Für dieses Mal. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Doch die Stimme würde wiederkommen. Sie würde es wieder machen. Daran bestand kein Zweifel.
Mit dem Bewusstsein für die Kälte des Abends kam die Angst. Sie stieg unaufhaltsam in ihm auf. Er hasste diesen Moment.
„Scheiße, was ist hier los? Was mache ich hier? Wie soll ich….“ Er sah sich um. Ein Gefühl von totaler Hilflosigkeit überkam ihn. Niemand weit und breit. Dann entdeckte er die Leiche einer Frau. Sie lag vor ihm, ein furchtbarer Anblick. Ihm wurde übel. Wer macht so etwas? Wer ist zu so etwas fähig? Er sah an sich herunter. Auf seine Hände, dann wieder auf den Körper der Frau. Sie lag einfach da, unglaublich. Er musste sich erneut übergeben.
Er wagte nicht, sie anzufassen. Warum auch. Sie war bestimmt tot. Wer wäre zu so etwas fähig? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er ermahnte sich. Er konnte sich an nichts erinnern.
„Wie kam er hierher?“
Wieder diese Hilflosigkeit, diese Verzweiflung.
„Reiß dich zusammen, Gutenberg, verdammt. Konzentrier dich. Er fühlte seine Taschen ab. Erst jetzt registrierte er die Schmerzen, die seinen Körper durchzogen, und die Erschöpfung. Woher…? Dann kam erneut die Angst zurück. Er fühlte seine Taschen ab. Nichts.
„Verdammt.“
Kein Handy. Plötzlich erinnerte sich an gestern Nachmittag, an einen Krimi, den er angefangen hatte. Er handelte von einer Reisegruppe, die Digital Detox gebucht hatte, digitale Entgiftung. Da bezahlen Menschen viel Geld dafür, dass ihnen ein Reiseveranstalter alle digitalen Medien abnahm, sie für eine Woche verwahrte, weil sie selbst nicht in der Lage waren, auf die Dinger zu verzichten, und dann verbrachten sie eine sündhaft teure Woche in den einsamen Bergen, oder irgendwo anders auf dem Land, wo auch immer, so einfach wie möglich, um sich digital zu entgiften. Soweit sind wir schon gekommen.
„Verrückt! Wenn man diese verdammten Dinger einmal braucht,….“
Er brach den Gedanken ab. Es nützte nichts. Er musste Hilfe holen. Er konnte doch die arme Frau nicht einfach da liegen lassen. Verdammt, wer tat so etwas?
Für den Moment nahm das Zittern etwas ab. Er sah sich um.
„Das sind höchstens drei- vierhundert Meter“, murmelte er vor sich hin, den Blick auf das nächste Haus oder den nächsten Hof gerichtet, dessen zaghaftes Licht er gerade so in der Dunkelheit des Abends erkennen konnte.
7
Er hob sein Rad von der Straße auf und fragte sich, wer es dort hingelegt hatte. Kopfschüttelnd verwarf er den Gedanken, der ihm so absurd erschien, und fuhr zu dem Hof.
Es war ein kleiner Hof. Das Haus lag im Schatten alter Bäume. Er fuhr in die Einfahrt und suchte im Dunkeln die Haustür. Durch die Glastür sah er in den Flur, der ebenfalls dunkel war. Plötzlich bellte ein Hund.
Angst überkam ihn, aber dieses Mal war es eine andere Angst.
Er klingelte trotzdem, erst zaghaft, dann ungeduldig ein weiteres Mal, jetzt mehrfach hintereinander. Keine Reaktion. Er war verärgert und wollte gerade wieder gehen, als das Licht erst im Flur und dann über der Tür anging. Eine dunkle, kratzige Stimme brüllte hustend den Hund an. Der Mann, der die Tür öffnete, war groß, breitschultrig und korpulent. Er hustete erneut. Im Licht der Tür wirkte er eher alterslos und ziemlich verlebt. Er starrte Hermann Gutenberg an, als sei er ein Alien. Anscheinend hatte ihm die Gegenwart des Besuchers die Sprache verschlagen.
„Rufen Sie…äh – Gutenberg, Hermann Guten… – Rufen sie die Polizei, und einen Krankenwagen, bitte.“
„Sind Sie betrunken?“
Der Mann an der Tür verzog keine Miene.
„Wie bitte?“
Keine Reaktion.
„Was“, platzte es aus Hermann Gutenberg heraus. Der Mann musterte ihn. Dann sah Hermann Gutenberg an sich herunter und verstand. Erst jetzt registrierte er, dass seine Sachen ziemlich schmutzig waren und dass er im Moment nicht gerade vertrauensvoll wirkte, von seinem Geruch ganz zu schweigen. Egal, ihm fehlte die Geduld.
„Dahinten liegt die Leiche einer Frau im Graben, verdammt. Rufen Sie die Polizei… Nun machen Sie schon. Ich habe kein Handy dabei, sonst hätte ich schon längst selbst….“
Hermann Gutenberg brach ab. Der Mann war einen Schritt zur Seite getreten.
„Da hinten ….“
Mit dem Kopf machte er eine nickende Geste in Richtung des hinteren Teils des Flures, wo offensichtlich das Telefon stand.
Der Hund bellte erneut, jetzt lauter.
„Packo!“ Der Hund hörte auf, zumindest für den Moment.
Im Haus roch es abgestanden und nach Fisch. Hermann Gutenberg wäre beinahe über die Angel und den danebenstehenden Eimer gestolpert. Sein Blick fiel auf einen mittelgroßen, kräftigen Mischlingshund hinter der Scheibe der Wohnzimmertür. Er knurrte. Der Mann ignorierte es.
Der Mann, der eine Jogginghose trug, und keinen Hehl daraus machte, dass sein Bauch schon fast unnatürlich über dem Hosenbund hing, nahm das Bedienteil eines abgegriffenen Telefons aus der Ladestation und hielt es Hermann Gutenberg hin.
„Das können Sie selbst tun. Aber machen Sie sich nicht allzu viel Hoffnung. Um diese Uhrzeit kann das dauern.“
Hermann Gutenberg fehlte jegliches Zeitgefühl. Intuitiv sah er auf sein Handgelenk, doch er hatte keine Uhr an.
Egal, er wählte. Es klingelte zweimal, als er sich fragte, ob er die richtige Nummer gewählt hatte…?
„Notrufzentrale, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Hallo? Hier Gutenberg, eh, Hermann Gutenberg, eh, ich meine, verdammt.“
„Reiß dich zusammen, Gutenberg“, ermahnte er sich lautlos. Seine Hände zitterten.
„Beruhigen sie sich erst einmal. Was ist passiert?“
Er atmete demonstrativ laut aus, wie ein Sportler vor einer großen Herausforderung.
„Entschuldigen sie. – Ich habe die Leiche einer Frau gefunden, hier hinter dem Deich.“
„Wo hinterm Deich?“, fragte die Stimme des diensthabenden Mannes am anderen Ende bemüht höflich, doch das wollte ihm nicht so recht gelingen, angesichts der Stammelei, die Hermann Gutenberg von sich gab.
„Der Deich ist lang. Wo genau sind sie jetzt?“
Hermann Gutenberg wurde klar, dass er das gar nicht wusste.
Er drehte sich zu dem Mann um, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
„Wie heißt das hier?“
„Was?“ Der Mann sah ihn fragend an.
„Die Adresse…“
„Deichstraße, … 27.“
Hermann Gutenberg wiederholte es ins Telefon.
„Sagen Sie mir bitte noch den Ort?“
„Ort?“ wiederholte Hermann Gutenberg zu dem Mann im Flur.
„Schottwarden.“
Hermann Gutenberg wiederholte es ins Telefon, unsicher, ob er den Mann richtig verstanden hatte.
Der Polizist antwortete:
„Wurster Land! Ok.“
Dem Polizisten war klar, dass der Anrufer nicht von hier war. Er sagte jedoch nichts.
„So, und Sie behaupten, Sie haben eine weibliche Leiche gefunden?“
„Das behaupte ich nicht einfach nur, sie liegt wirklich da vorne im Graben, leibhaftig!“
„Und woher wissen Sie so genau, dass die Frau tot ist?“
„Keine Ahnung, ich weiß es einfach. Sie ist tot, zumindest sieht sie so aus. Sie rührt sich nicht mehr, ihre Augen starren ins Leere, sie sieht einfach tot aus, Herr Gott. Ich bin doch kein Arzt.“
„Ok, beruhigen Sie sich. Ich schicke eine Streife und einen Rettungswagen zu der Adresse, die Sie mir gerade gegeben haben.“
Für einen kurzen Moment wirkte Hermann Gutenberg erleichtert. Dann, wie vom Blitz getroffen, brüllte er:
„Nein, verdammt.“
„Wie, nein?“ Die Stimme am anderen Ende war sichtlich irritiert.
„Ist bei ihnen alles in Ordnung?“
„Nein, überhaupt nichts ist hier in Ordnung, verdammt.
„Die Frau liegt hinterm Deich, also von hier aus vor dem …ein Stück die Straße runter, nach links, ein paar hundert Meter vielleicht.“
„Ok, hören Sie zu: Gehen Sie dorthin zurück, und warten Sie auf die Einsatzkräfte. Aber fassen Sie nichts an.“
„Jo.“
Er wusste auch nicht, warum er das sagte.
Hermann Gutenberg legte auf. Seine Hände zitterten.
„Hier, nehmen Sie erstmal ein´ Lütten. Sie sehen ganz schön fertig aus.“
Der Mann, der ihm ein gut gefülltes Schnapsglas hinhielt, und dessen von der rauen Seeluft gerötetes Gesicht Hermann Gutenberg erst jetzt wirklich wahrnahm, mochte so um die fünfundvierzig sein, nicht viel älter als er selbst. Er sah ebenfalls ziemlich müde aus. Seine dünnen Haare waren an der einen Seite ziemlich plattgedrückt, wahrscheinlich von der Couch. Den Klaren hatte er offensichtlich schon reichlich genossen. Das konnte man riechen. Er verstand nicht, wie Leute so leben konnten.
„Danke, lieber ein Glas Wasser, bitte.“
Der Mann nickte kaum merklich und trank das Glas in einem Zug aus, ohne eine Miene zu verziehen.
„Meine Frau kommt bestimmt gleich nach Hause. Sie ist bei den Landfrauen.“
Der Mann war nicht aus der Ruhe zu bringen.
„Fragen Sie sich gar nicht, wer die Frau sein könnte?“
„Hmm.“
Kurze Pause.
„Wie sieht sie denn aus?“
Hermann Gutenberg merkte, dass er gar nicht in der Lage war, die Leiche zu beschreiben. Höchstens ein paar Bruchstücke fielen ihm ein.
„Blond, lange Haare, ziemlich helle Haut. Sie trug ein Kleid, glaube ich.“
„Svenjas sind braun… und kurz.“
Er deutete mit der Hand ungeschickt die Haarlänge an und schwieg dabei. Dann:
„Vielleicht Hiltrud. Sie is´ blond.“
Meine Güte, hatte der Typ ein Gemüt.
„Welche Hiltrud?“
„Von drüben, Hannes Gerkens. Seine Frau ist blond.“ Er zeigte in eine Richtung, mit der Hermann Gutenberg nichts anfangen konnte. Plötzlich fiel ihm auf, dass er noch nicht einmal nach dem Namen des Mannes gefragt hatte. Wieder eine Pause. Der Schnellste war er nicht gerade.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Fiete Jensen. Und Sie?“
„Gutenberg, sagte ich ja schon.“
„Sie sind nicht von hier.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
Jensen zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Merkt man.“
Die Männer schwiegen.
„Kann ich mal ihre Toilette benutzen?“
„Hmm.“
Jensen nickte zustimmend und zeigte mit dem Finger in Richtung WC.
„Hinten links.“
Der Hund fing wieder an zu bellen.
„Packo – Aus!“
Hermann Gutenberg hatte das Bedürfnis, sich zu waschen.
Er brauchte lange, ohne genau zu wissen, wie lange. Als er fertig war, glaubte er, kurz ihre Stimme gehört zu haben. ´Das hast du gut gemacht´, hatte sie gehaucht. Sonst nichts. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Es war als hätte er einen Filmriss gehabt. Unsicher sah er auf seine Hände, sie waren ruhig. Dann kurz in den viel zu kleinen Spiegel. Nichts sagte ihm etwas. Nichts passierte. Schließlich fiel sein Blick auf die Toilette, deren Brille hochstand Er schloss sie ohne zu wissen, ob er sie überhaupt benutzt hatte. Das alles nahm ihn ziemlich mit. Kopfschüttelnd versuchte er, auf andere Gedanken zu kommen. Plötzlich ging ihm der Anblick der Toten hinterm Deich durch den Kopf und er wurde nervös. Er musste hier raus, weg von hier. Als er in den Flur zurückkam, erschreckte er sich, als Fiete Jensen im Flur erschien. Er hatte die Arme über seiner Brust verschränkt. Für einen Moment wirkte es so, als verberge er etwas in der Hand, die er verdeckt hatte. Hermann Gutenberg sah Jensen an. Sein Blick sprach eine andere Sprache als sein aufgeschwemmter Körper. Stoisch und emotionslos, ohne mit der Wimper zu zucken, sah er zu Hermann Gutenberg, sagte aber nichts. In diesem Moment hätte Jensen alles sein können, vom Trottel bis zum abgebrühten Killer. Hermann Gutenberg hatte Angst. Er versuchte, die Situation zu entschärfen und sah sich um. Die halbhohe Holzvertäfelung an den Wänden war alt und im unteren Bereich verkratzt. Wahrscheinlich von dem Hund. Die grünbeige Streifentapete schien noch aus derselben Zeit zu sein wie die braunen Bodenfliesen und die gelbe Verglasung mit ihrem förmchenartigen Kreismuster in den Glaselementen von Haus- und Wohnzimmertür. Alles erinnerte ihn an die siebziger Jahre. Die mickrige Deckenlampe hatte nicht die geringste Chance, für ordentliches Licht zu sorgen. Hermann Gutenberg sah auf den Boden, dann in die Ecken. Alles wirkte schäbig, aber sauber. Es stand wenig herum, abgesehen von dem Angelzeug. Er wusste nicht, warum er ausgerechnet jetzt auf Sauberkeit achtete. Absurd. Es überraschte ihn, weil es nicht zu dem etwas vernachlässigten Äußeren von Fiete Jensen passte, der immer noch dastand, ohne sich zu rühren. Hermann Gutenberg hatte genug.
„Ich fahr wieder zu der Stelle…“
Er zeigte in eine Richtung, von der er überhaupt nicht wusste, ob sie stimmte, doch das war ihm egal. Er versuchte sich zu beruhigen.
„Die Polizei müsste gleich … da sein.“
„Jo.“
Nach einem Killer hörte sich das nicht an.
„Wollen Sie nicht mitkommen?“
Hermann Gutenberg wusste auch nicht, warum er das gefragt hatte.
„Wozu?“
Hermann Gutenberg ließ ihn stehen. Er hatte genug von dem Typen. Sollte er doch bleiben, wo er wollte. Die Situation blieb merkwürdig.
„Danke ….“
Er drehte sich zur Tür und stolperte über eine der Angeln. Der Eimer, der danebenstand, schepperte hohl und wirbelte seinen Inhalt durcheinander.
Der Krach durchbrach die angespannte Stille, als machte er sich lächerlich über die absurde Situation. Reflexartig stützte Hermann Gutenberg sich an der Wand ab, an der eine grüne Wathose hing. Das Gummi wirkte kalt und schmierig. Er erinnerte sich später an ein Markenschild, auf dem irgendetwas mit ´… Comfort Plus…´ oder so ähnlich stand. Irritiert und mit flüchtigem Blick sah er erst zu Jensen, dann nach unten. Er griff nach dem Eimer, um ihn wieder an seinen Platz zu stellen. Dabei entdeckte er etwas verschmiertes dunkelrotes, das aussah wie leicht angetrocknetes Blut, das noch nicht alt aussah, ein paar Angelhaken, etwas Braunes, dass aussah wie ein Holzgriff, und noch ein paar Kleinigkeiten wie eine leere Dose, die wahrscheinlich für Köder benutzt worden war. Er sah erneut kurz zu Jensen, dessen Miene sich nicht verändert hatte.
„Angeln Sie auch?“
Jetzt hatte sich Jensens Miene etwas aufgehellt.
Hermann Gutenberg konnte den Kerl nicht mehr ertragen. Er schüttelte fassungslos den Kopf, öffnete die Haustür und verließ das Haus.
8
„Wagner?“
„Polizei Geestemünde, Paulsen am Apparat. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, Frau Wagner.“
Ziemlich förmlich, dachte sie.
„Was gibt’s?“
„Eine Tote, am Deich bei Schottwarden, wenn ihnen das etwas sagt, hinter Imsum Richtung Wremen raus.“
Außer Wremen sagte ihr das natürlich nicht viel, aber das ließ sie sich nicht anmerken, jedenfalls nicht sofort. Immerhin wusste sie, dass es Richtung Norden war. Sandra Wagner war neu hier. Sie war nach der Polizeischule ein Jahr in der Hundertschaft in Wuppertal gewesen, dann fünfzehn Jahre bei der Mordkommission in Gelsenkirchen und Essen. Nach einer schweren Verletzung, hatte es sie in den ruhigeren Norden gezogen.
Paulsen wurde verlegen, als er merkte, dass die neue Kommissarin nicht reagierte.
„Entschuldigung, ich dachte….“
„Schon gut. Was wissen wir?“
Sandra Wagner kam sofort zur Sache.
„Der Notruf kam um 20.43 Uhr, von einem Festnetzanschluss, nicht weit vom Tatort entfernt. Deichstraße 27, Wurster Land. Ein kleiner Hof. Der Besitzer heißt Fiete Jensen, 44 Jahre alt, Landwirt.“
„Hat er die Tote gefunden?“
„Nein. Ein gewisser Hermann Gutenberg. Er hat die Tote gemeldet. Von Jensens Apparat aus.“
„Noch etwas?“
„Soweit erstmal nicht. Streifenwagen und RTW mit Notarzt sind unterwegs.“
„Informieren sie die Spurensicherung. Und Paulsen, bitte schicken sie mir die GPS-Koordinaten aufs Handy.“
„Wird gemacht.“
„Wo ist dieser Gutenberg jetzt?“
„Ihm wurde gesagt, er solle vor Ort warten.“
Sandra Wagner sah kurz auf die Uhr. 21.05 Uhr.
„Von wem?“
Paulsen druckste herum.
„Mensch Paulsen.“
Das hätte sich mal einer in Essen rausnehmen sollen. Doch darum würde sie sich später kümmern.
Sie wusste nicht genau, wie lange sie brauchen würde, aber es spielte auch nicht wirklich eine Rolle. Auf dem Weg in die Tiefgarage kontrollierte sie noch einmal, ob sie alles hatte. Stieg ein, fixierte ihr Handy in dem Halter an der Windschutzscheibe und fuhr los. Das Navi zeigte zwölf Minuten an. Sie würde es in neun schaffen.
9
Als Hermann Gutenberg zum Fundort der Leiche zurückkam, sah er schon die Blaulichter über die Marschwiesen hinweg blinken.
Dann ging alles sehr schnell. Polizei, Notarzt, die Spurensicherung, ziemlich viel Wirbel für diese armselige Gegend hier. Hermann Gutenberg war beeindruckt.
Eine Frau kam auf ihn zu. Jung, vielleicht Mitte oder Ende Dreißig, sportlich schlank, kurze Haare, eher der androgyne Typ. Sie war nicht sehr groß, schien jedoch zu wissen, was sie wollte. Ihm fielen sofort ihre Augen auf. Hellwach, etwas stechend und wunderschön.
„Wagner, Kripo Bremerhaven. Sie sind?“
Ihr Kommandoton löste bei ihm unverzüglich eine höhere Körperspannung aus.
„Gutenberg, Hermann.“
Er sah kurz auf ihren Ausweis, den sie ihm hinhielt, konnte aber in dem wenigen Licht nicht viel erkennen.
„Sie haben die Tote gefunden?“
„Genau.“
„Darf ich fragen, was Sie hier machen, abends um diese Zeit?“
„Eine Radtour.“
Sie sah ihn an und ihr Blick sagte alles. Trotzdem fragte sie:
„Um diese Uhrzeit?“
Hermann Gutenberg war überrascht über die vorwurfsvolle Art. Doch er merkte selbst, dass seine Antwort nicht gerade überzeugend klang. Vor allem, wenn man gerade neben einer Leiche stand, so aussah wie er und nicht verdächtig erscheinen wollte.
„Es ist aber so, …eh?“
Sie verkniff sich eine Antwort und wartete ab. Wieder sprach sie mit den Augen.
„Eine bessere Erklärung habe ich nicht. Ich bin durch Zufall hier vorbeigekommen.“
„Ok.“ Jetzt sah sie ihn eindringlich an und versuchte zu ergründen, was dran war an den Äußerungen dieses etwas merkwürdig wirkenden Mannes.
Kurze Pause.
„Haben Sie vom Handy aus angerufen?“
Sie wusste genau, dass der Anruf vom Festnetz kam.
„Nein, von dort hinten, da wo Licht brennt, von Jensens Apparat. Ein ziemlich merkwürdiger Typ, wenn Sie mich fragen.“
Offensichtlich nahm der Mann sich selbst und sein Äußeres sehr wenig wahr, so wie er aussah. Sie ignorierte es für den Moment und hakte nach.
„Warum nicht von Ihrem Handy aus?“
„Ich habe es im Hotel vergessen.“
„Sie machen Urlaub hier?“
„Eine Kurzwoche.“
„Damit ist es auch bald vorbei, wenn es mit dem Virus so weitergeht.“
Sandra Wagner sagte es eher beiläufig ohne zu wissen, was diese Aussage unter normalen Umständen bei Hermann Gutenberg ausgelöst hätte. Sie drehte sich kurz um, um die aktuelle Lage um den Leichnam herum zu scannen. Hermann Gutenberg wollte zu einem Statement ausholen, ließ es aber sein, als er sah, dass die junge Kommissarin nicht an einer Diskussion interessiert war. Er beobachtete sie.
Sie zog ihn an. Waren es ihre Augen? Plötzlich hatte er Mühe, sie nicht anzustarren. Das Gefühl nahm zu. Er versuchte es zu unterdrücken. Um Gottes Willen nicht jetzt…
Sandra Wagner spürte die Veränderung, auch wenn es nur eine Nuance war, ließ sich aber nichts anmerken.
„Ist das von Ihnen?“
Sie deutete erst auf den Mageninhalt, der übelriechend auf der Straße lag, und dann auf seine Hose, die ziemlich verschmutzt war.
„Ja, tut mir leid. Sowas bin ich nicht gewöhnt.“
Er zeigte sichtlich bewegt mit einem dezenten Kopfnicken auf den Körper der toten Frau. Es nahm ihn mit und das schien ihm peinlich zu sein. Vielleicht war er tatsächlich nur ein armer Kerl, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.
„Geben Sie meinem Kollegen ihre Personalien und Ihre Aufenthaltsdaten. Wir werden ihre Angaben überprüfen und uns noch einmal bei Ihnen melden.“
„Ach ja, noch eins. Kannten Sie die Frau?“
„Nein.“
„Wann fahren Sie wieder zurück?“
„Morgen Abend.“
„Ok, gehen Sie bitte zu meinem Kollegen dort. Halten Sie sich grundsätzlich zu unserer Verfügung. Sie hören von uns. Danke.“
Das war alles. Sie hatte sich bereits wieder dem Tatort zugewandt. Er sah ihr nach und wusste nicht so recht, was er machen sollte.
Am liebsten hätte er ´Jo` gesagt, weil er an Jensen denken musste. Doch das verkniff er sich.
„Keine Ursache.“
Sandra Wagner schenkte ihm keine Beachtung mehr. Das wurmte ihn. Ihn so links liegen zu lassen, gefiel ihm gar nicht. Ihr würde es auch nicht gefallen, doch von ihrer Stimme war nichts zu hören. Es schlug ihm auf den Magen.
Sichtlich bemüht, nicht zu straucheln, setzte er sich auf sein Fahrrad. Der Schmerz kam zurück und mit ihm die Erschöpfung. Sein Herz schlug langsam und polterte so heftig, dass es ihm fast aus dem Hals kam. Ihm wurde schwindelig. Dann wusste er, warum. Sie war bei ihm, dass spürte er und es beruhigte ihn, solange sie ihn in Ruhe ließ. Er murmelte etwas vor sich hin wie ´Nicht …jetzt´. Dann dachte er wieder an die Kommissarin und schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich nahm er eine Frauenstimme wahr. Obwohl er das Gefühl hatte, dass sie in weiter Ferne war, hörte er sie klar und deutlich.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Er drehte sich verwundert um. Die Kommissarin stand hinter ihm und hielt ihn am Arm, als wollte sie ihn stützen. Offensichtlich hatte sie gesehen, dass etwas nicht stimmte.
„Danke…, es …em, ja, es geht schon.“
Er nickte und hob ablehnend die Hand, sichtlich um Verharmlosung bemüht.
„Wen haben Sie gemeint, als sie das gerade gesagt haben?“
„Was? … keine Ahnung, ich meine, ich weiß nicht.“
„Vielleicht sollten sie sich von dem Notarzt da vorne etwas geben lassen. Soll ich Sie nach Hause bringen lassen?“
Hermann Gutenberg lehnte ab. Seine Antwort kam spontan, aus Reflex. Er schien verunsichert.
„Sicher?“
„Ja, danke. Die frische Luft wird mir guttun.“
Er glaubte selbst nicht so richtig an das, was er von sich gab. Er musste hier weg, bevor er die Kontrolle verlor.
„Wie Sie meinen.“
Sie betrachtete ihn mit festem, aber leicht verändertem Blick.
„Passen Sie auf sich auf.“
Ihre Reaktion hatte etwas Fürsorgliches. Vielleicht war es auch Wunschdenken. Aber im Moment half ihm der Gedanke. Er nickte.
Die Stimme, die er wenig später aus der Tiefe seiner Seele zu hören glaubte, flüsterte ihm etwas zu. Jetzt war es ihre Stimme, es war nur ein Hauchen, er verstand sie nicht, noch nicht.
Hermann Gutenberg sah der Kommissarin noch einen Augenblick nach, als sie zum Tatort zurückging und doch hatte er das Gefühl, in ihre zunächst kühlen Augen zu blicken, die kühlen Augen eines Profis, die anschließend – nur für einen kurzen Augenblick – einem eher warmherzigen Blick gewichen waren, das hatte ihn verwirrt.
Er war überfordert, das stand fest, und er wusste das. Doch seine innere Stimme nahm keine Rücksicht. Sie flüsterte, doch er verstand sie immer noch nicht. Er flehte.
„Nicht mehr heute Abend, bitte“, dass musste sie doch einsehen. Irgendwann würde sie ihn in Ruhe lassen, das wusste er, aber wann, das bestimmte niemand anderes als sie.
„Merkwürdiger Typ“, dachte Sandra Wagner. Sie glaubte, in seinem Blick eine gewisse Verschlagenheit gesehen zu haben. Was stimmte mit dem Mann nicht? Er wirkte widersprüchlich. Allerdings, dass erlebte sie immer wieder, reagierten Menschen sehr unterschiedlich auf den Tod, wenn sie damit unverhofft konfrontiert wurden. Vielleicht hätte sie doch darauf bestehen sollen, dass der Notarzt einen Blick auf den Mann warf. Wenigstens zur Sicherheit. Schließlich sah sie sich noch einmal um. Der Mann war weg. Irgendetwas stimmte tatsächlich nicht. Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf. Doch er war noch unreif.
Sie wendete sich dem Tatort und ihren Kollegen zu. Die Gerichtsmedizinerin hieß Christine Lacroix. Sandra Wagner schätzte sie auf Anfang Fünfzig. Ihre Handgriffe wirkten professionell und routiniert. Sie hatte gerade die Erstuntersuchung der Leiche abgeschlossen.
„Dr. Lacroix? – Sandra Wagner.“
„Sie sind neu hier, stimmts? Hab schon von ihnen gehört. Ruhrgebiet?“
„Hört man das?“
„Dr. Lacroix machte eine entschuldigende, aber eindeutige Geste.
„Interessanter Name, klingt auch nicht gerade norddeutsch.“
„Mein Mann war Franzose.“
Sandra Wagner registrierte die Vergangenheitsform, in der Christine Lacroix das gesagt hatte, vermied es jedoch, nachzuhaken. Ihr Blick zeigte Verständnis und Christine Lacroix schien froh darüber zu sein. Die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch.
„Können sie schon etwas sagen?“
Dr. Lacroix war ein Stückchen größer als Sandra Wagner, machte aber ebenfalls einen sehr sportlichen Eindruck, vor allem für ihr Alter.
„Tod durch Stichverletzung, direkt ins Herz. Die Frau war sofort tot.“
Sie zeigte auf Sandras Körper und deutete damit die Einstichstelle an.
„Kurze, scharfe Klinge, soweit ich sehen kann. Nur eine Schneide.“
„Bis jetzt keine weitere Gewalteinwirkung erkennbar.“
„Todeszeitpunkt?“
„Höchstens vor ein paar Stunden, aber noch ohne Gewähr.“
„Ok, danke schon mal. Wann kann ich Näheres erfahren?“
Morgen früh weiß ich mehr. Wir bringen sie jetzt ins Institut, wenn sie einverstanden sind und dann sehe ich sie mir gleich genauer an.
„Danke Dr. Lacroix.“
„Nennen Sie mich Christine.“
Lacroix hielt ihr die Hand entgegen, nachdem sie sich die OP-Handschuhe ausgezogen und ihre Hände desinfiziert hatte.
„Sandra.“
Sandra Wagner registrierte, dass Dr. Christine Lacroix einen offenen und völlig entspannten Blick hatte, obwohl es bereits spät war. Sie sahen sich für eine Sekunde in die Augen. Beide spürte, dass da etwas Verborgenes war.
„Dann bis morgen.“
Sandra hob dankend die Hand.
Kriminalkommissar Ove Piet Arens, 42, groß und klapperdürr, war das genaue Gegenteil von dem, was man sich als Partner wünschte. Er war unterwürfig und zuweilen zögerlich, wenig souverän, dabei aber intelligenter als jeder andere, wenn es darum ging, zu recherchieren und zu kombinieren. Doch das konnte er bisher nie zeigen. Sie hatten ihn nicht gelassen. Und von sich aus würde er diese Fähigkeit niemals zeigen. Die Polizeischule hätte er beinahe nicht bestanden, weil er die Sportprüfung zweimal versiebt hatte. Aber nicht, weil er sportlich eine Null war, sondern weil er ein Tollpatsch war und damit nicht nur alle zum Lachen brachte, sondern auch so manchen Kollegen zur Verzweiflung, damals seine Trainer und Prüfer, später seine Kolleginnen und Kollegen. Im Grunde nahm ihn niemand wirklich ernst. Alle amüsierten sich bei dem Gedanken, dass die Neue wohl ihren Spaß mit Pieke Arens haben würde. Seine Kollegen nannten ihn so, weil er eine ziemlich spitz zulaufende und markante Nase hatte, die nicht in sein Gesicht passte. Er wirkte dadurch wie seine eigene Karikatur.
„Alles in Ordnung, Arens?“
Sandra Wagner sah, dass er mit feuchtem und starrem Blick die Leiche der Frau betrachtete, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
„Ja, ich meine, nein, ich…, wer….“
„Sie zittern ja. – Haben sie noch nie eine Leiche gesehen?“
„Doch…, schon, aber es… ist jedes Mal schrecklich und dann brauche ein bisschen, bis ich klarkomme.“
Donnerwetter, dachte Sandra Wagner, die seine Vorgeschichte nicht kannte. Ein Mann, und dazu noch ein Kollege, der so ohne weiteres seine Schwächen zugab, in solch einer Situation, …, Respekt. Arens wirkte authentisch. Da war nichts, was ihn in ihren Augen lächerlich erscheinen ließ, er war einfach nur Mensch.
Sie wechselte das Thema.
„Ove, sie sind doch von hier, oder?“
„Ja, seit vier Generationen. Warum?“
Sandra Wagner sah Arens in die Augen und spürte, dass sie jetzt einen anderen Arens vor sich hatte. Den wahren Ove Arens, intelligent, heimatverbunden und hellwach.
„Schottwarden?“
„Was meinen sie?“
„Wissen sie, Ove, jede Region hat seine speziellen Eigenheiten, seine Geschichte. Menschen, die eine bestimmte Rolle spielen oder gespielt haben, die einen mehr, die anderen weniger, sie wissen schon….“
„Schottwarden hat tatsächlich eine besondere Geschichte, auch wenn es nicht gerade der Nabel der Welt ist. Aber….“
Er stockte.
„Aber…ich wüsste nicht, was das jetzt gerade für eine Rolle spielt….“
Sandra Wagner sah in Richtung des Imsumer Ochsenturms, der im Dunkeln kaum zu sehen war. Sie kannte ihn von ihren ersten Ausflügen am Deich entlang.
„Wer weiß, vielleicht haben sie recht, vielleicht….“
Sie brach ab. Dann sah sie in Richtung Fiete Jensens kleinem Hof. Arens kannte ihn.
„Versprechen sie mir, dass sie mir später etwas darüber erzählen werden?“
Ove Arens merkte, dass sein Zittern aufgehört hatte und er wieder in der Lage war, sich zu konzentrieren. Er wollte sich gerade antworten, doch seine Chefin hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und hockte vor der Leiche der Frau.
„Arens?“
Sie zeigte auf eine Stelle an der Leiche. Eine Kette mit einem Medaillon, auf dem eine Gravur zu sehen war.
Ove Arens wusste sofort, was sie meinte.
„Finden Sie heraus, was das ist. Ich will alles darüber wissen, verstanden? Und zwar schnell.“
Sandra Wagner konnte blitzschnell umschalten.
„Ich? Sie meinen, ich soll ….“
Er stammelte und Sandra Wagner unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt.
„Tun Sie es einfach. Wir sprechen uns morgen.“
Er nickte, noch etwas verwirrt darüber, dass sie ihn ernst nahm. Er würde seine Chefin nicht enttäuschen.
10
Am nächsten Morgen, es war bereits nach elf, konnte Hermann Gutenberg kaum aufstehen. Er wusste nicht, wie er ins Hotel gekommen war. Er musste sofort eingeschlafen sein. Die Erinnerung verblasste, die Schmerzen allerdings waren real. Ihm war kalt. Erst jetzt registrierte er, dass er nackt war. Ungewöhnlich für ihn. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle? Er ignorierte es. Warum sollte er sich darüber den Kopf zerbrechen? Schließlich hatte er mit dieser Sache nichts zu tun.
Nur eines ließ ihn nicht mehr los. Die Frage, was für ein Mensch das sein musste, der einer Frau so etwas antat. Er kapierte es nicht. Warum macht jemand so etwas?
Er, Hermann Gutenberg, er würde so etwas niemals tun, davon war er in diesem Moment felsenfest überzeugt. Zumindest der Hermann Gutenberg, der er jetzt gerade war. Aber, und das musste er zugeben, er kannte auch den anderen Hermann Gutenberg. Ehrlich gesagt, wusste er gar nicht, ob der auch so hieß. Jenen Mann, den er niemals verstehen würde. Er wusste, dass der nicht alleine handelte und dass er sich aus dessen Angelegenheiten raushalten musste. Auch wenn er fest entschlossen war, sich daran zu halten, allein schon aus Selbstschutz, sich nicht mitschuldig zu machen, war der Übergang mehr und mehr fließend. Seine Gedanken sprangen immer wieder zwischen diesen beiden Männern hin und her, die so gar nichts gemeinsam hatten, außer demselben Körper. Die einzige Gemeinsamkeit war nur diese eine Hülle. Manchmal ertappte er sich dabei, mehr über den anderen herausfinden zu wollen. Eine gewisse Neugier befiel ihn. Vielleicht war es auch der Versuch, ihn zu verstehen. Vielleicht konnte er ihm helfen, wenn…. Er unterbrach den Gedanken, oder war sie es?
Da war eine Frau. Sie musste seine Komplizin sein oder mehr. Sie war stark, magisch, sie entschied, was er zu tun hatte. Sie, die immer wieder zu ihm sprach, aus tiefster Seele heraus ihm etwas ins Ohr flüsterte, was er manchmal nicht verstand, der andere Mann aber schon. Doch er verstand diesen anderen Mann nicht. Er tat ihm leid. Und er wusste, dass war nicht er, nur seine Hülle, sein Körper, den sich der Andere manchmal lieh, oder war er es, der seine Hülle verlieh? War er doch mit schuldig? Nein, das konnte unmöglich sein. Auch wenn er es im Inneren ablehnte, er konnte nichts tun. Was ging es ihn, Hermann Gutenberg, Kaufmann und Gutmensch, an. Er war nicht für den anderen verantwortlich. Sollten sich doch andere um dieses Schwein und vor allem um diese Frau kümmern. Sie war keinen Deut besser, diese Schlampe. Sollten sie beide doch zur Hölle fahren. Er hasste solche Frauen. Er hasste sie. Sie waren wie…Plötzlich klopfte es an der Tür. Hermann Gutenberg erschrak.
„Zimmerservice.“
Die Stimme einer Frau, die er nicht kannte, durchflutete seine Gedanken. Waren es seine oder die des anderen? Er hörte einen Schlüssel, wie er ins Schloss geschoben wurde. Das Geräusch machte sich plötzlich in seinem Kopf breit, als würde es sich um das Schloss zum System der Zeit öffnen, um diese zu verlangsamen und schließlich ganz zum Erliegen zu bringen. Er stand auf, so wie er war, und machte Platz für den anderen Mann. Er drehte sich zu ihm um und sah, wie der ins Bad ging und hinter der Tür verschwand. Jetzt hörte auch er ihre Stimme. Sie war wieder da und sie hauchte ihm sanft ins Ohr, dass es Zeit war für einen weiteren Akt, dass sie auf ihn aufpasste. Er spürte ihren Atem, den Hauch ihrer Stimme an seinem Ohr. Ihr Flüstern war warm und sanft.
„Hab keine Angst.“
Dann schreckte er auf. Sein Wecker klingelte.
Es dauerte etwas, bis er verstand, wo er war. Halb neun. Er drückte den Wecker aus und setzte sich auf die Bettkante. Die Nacht war nicht schlecht gewesen. Er hatte geträumt, ziemlich merkwürdiges Zeug. Er erinnerte sich nur an Bruchstücke, an eine Frau, deren Augen ihn fasziniert hatten, und an diesen merkwürdigen Bauern. Er schüttelte den Kopf. Dann sah er zur Tür. Hatte es nicht geklopft? Für einen Moment lauschte er in Richtung Flur, aber da war nichts. Gähnend stand er auf und ging ins Bad, erledigte, was zu erledigen war, zog seinen Schlafanzug aus und sprang unter die Dusche. Schließlich war es sein letzter Tag heute und den wollte er genießen. Der Gedanke von heißem Kaffee stieg ihm in die Nase, als sein Blick durch die Glastür der Dusche auf seine verschmutzten Sachen fiel.
11
Etwa drei Wochen später bekam er einen Anruf. Es war sein Handy, dass geklingelt hatte. Die Nummer war eine 04er Vorwahl. Er ging ran.
„Gutenberg?“
„Sandra Wagner, …Kripo…“
„Hallo ….“
Das kam schnell und ungewöhnlich erfreut. Mit dieser spontanen Begrüßung hatte sie nicht gerechnet. Sie wartete ab.
Hermann Gutenberg wurde euphorisch, er bekam Herzklopfen und erinnerte sich spontan an das Gefühl, das ihn seit dem ereignisreichen Abend neulich nicht mehr losgelassen hatte, besonders nachts nicht. Er musste sich zusammenreißen.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Wir haben den Mörder von Hiltrud Gerkens gefasst.“
Keine Reaktion. Er stockte.
„Die Tote hinterm Deich, die Sie gefunden haben.“
Dann endlich:
„Oh, eh, ja, das ist gut.“
Das traf ihn hart, ohne dass er verstand, warum.
Sandra Wagner registrierte die Verunsicherung, die aber in dieser Situation normal war, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Sie hatte damit gerechnet.
„Sie haben Glück gehabt.“
„Ich? Was meinen Sie?“
„Erinnern Sie sich noch an Fiete Jensen?“
„Der komische Typ, ja, was ist mit ihm?“
„Wir glauben, dass er der Mörder von Hiltrud Gerkens ist. Wir haben Blutreste des Opfers in seinem Badezimmer gefunden.“
Hermann Gutenberg musste sich setzen. Er wurde blass und ihm wurde flau. Dann, plötzlich, hauchte eine Stimme in ihm, die nicht der Kommissarin gehörte. Er verstand sie nicht, aber es war Ihre Stimme. Sie war da, und sie hörte mit. Es war das erste Mal, dass es während eines Telefonates passierte. Ein Stechen, wie bei einem Krampf, zog ihm von der linken Nackenhälfte quer durch den Kopf bis ins rechte Auge. Er verzog das Gesicht.
„Herr Gutenberg? Sind Sie noch dran?“
Jetzt war es die Stimme der Kommissarin, die ihn zurückholte und ihm vorkam, wie die eines Engels. Das musste an seinen Träumen liegen. Er hatte sich ein wenig in die Kommissarin verliebt. Manchmal sah er in seinen Träumen nur ihre Augen, sonst nichts, und dann hörte er ihre Stimme. Es war so. Er konnte nichts dafür. War sie die Nächste? Sie würde es ihm schon sagen. In seinem Kopf war es wieder still geworden. Stattdessen sagte er:
„Eh, ja, entschuldigen Sie.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“
„Danke, dass Sie mir das erzählt haben. Das beruhigt mich etwas. Ich…, mir ist bis heute schleierhaft, wie jemand so etwas tun kann…“
„Schlimm, ja…“
Sie machte eine kurze Pause. Der Moment schien zu passen.
„Es tut mir leid, Herr Gutenberg, dass ich Sie damit belästigen muss, aber Sie müssten noch einmal herkommen. Wir brauchen Ihre Aussage bezüglich Fiete Jensen.“
Er stutzte, zeigte sich jedoch unbeeindruckt.
„Kein Problem, aber wozu?“
„Er behauptet, Sie hätten Blut an den Händen gehabt und hätten sich erst einmal waschen wollen. Er versucht anscheinend, Ihnen die Sache in die Schuhe zu schieben.“
„Was? Der spinnt wohl.“
Diesmal war die Spontanität angebracht.
„Keine Angst, wir haben die Waffe, ein Anglermesser, bei ihm gefunden mit seinen Fingerabdrücken darauf und Blutspuren von Hiltrud Gerkens. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
Hermann Gutenberg wurde stutzig. Er konnte sich an das Messer erinnern. Es war ein Fischermesser mit braunem Griff. Es lag in dem Eimer neben dem Angelzeug.
„Ok, das muss ich erstmal verdauen.“
„Das verstehe ich sehr gut. Nehmen Sie sich Zeit.“
In den nächsten Minuten, oder waren es eher Sekunden, Hermann Gutenberg konnte es im Nachhinein nicht mehr sagen, schwiegen sie. Es war eigentlich alles gesagt. Er hätte erwartet, dass das Gespräch jetzt beendet wäre, doch Sandra Wagner machte keine Anstalten. Ihr Schweigen machte ihn nervös. Warum zögerte sie? Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Dann hörte er wieder das leise hauchen ihrer Stimme in seinem Kopf, doch er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte.
„Wann soll ich kommen?“
„Sobald wie möglich am besten. Wann können Sie?“
Wenn etwas faul wäre, würde sie ihn wohl kaum fragen.
„Ok, wir haben heute Dienstag, reicht es am Donnerstag? Dann bin ich eh wieder im Norden unterwegs.“
Dann kam wieder das andere Ich ins Spiel und sie hauchte es ihm zu, schmiedete Pläne. Er hörte ihre Stimme. Ganz leise nur. Doch sie war da, und er wusste, dass das ein Zeichen war. Er hatte richtig reagiert.
„Ja, das passt gut. Melden Sie sich, wenn Sie kommen, im Präsidium bei meinem Kollegen Ove Arens. Sie haben ja seine Karte.“
„Gut, mach ich.“
„Bis Donnerstag, und haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Gutenberg.“
„Kein Problem, gerne, bis Donnerstag.“
„Es wird ein Fest.“
Jetzt war sie ganz deutlich zu verstehen gewesen. Und sie war nett zu ihm. Er lächelte sein Gegenüber selbstbewusst an. Es war sein Spiegelbild, das zurücklächelte, ohne dass klar war, wen von beiden es zeigte. Er fühlte sich überlegen. Und sie würde ihm helfen. Dieser Dummkopf von Fiete Jensen konnte jemandem wie ihm ohnehin das Wasser nicht reichen. Der andere Mann hatte alles minutiös geplant, mit ihrer Hilfe. Die beiden waren ein gutes Team. Wie bei den Anderen.
Er, Hermann Gutenberg, der Gutmensch, würde seine Aussage machen und die schöne Kommissarin zum Essen einladen und wer weiß, was der Abend dann noch bringen wird. Er stellte nur die Verbindungen her, dann übernahm der Andere, immer wenn er ihre Stimme hörte. Ab da war er, Hermann Gutenberg raus. Was sie dann taten, ging ihn nichts an. Er wollte es auch gar nicht wissen. Vielleicht würden sie bis tief in die Nacht mit ihr feiern. Sie wäre auch da, das wusste er. Sie kam jetzt immer häufiger und langsam gefiel es ihm, denn dann übernahm der Andere. Siehatte sich verändert. Mit ihr fühlte er sich sicher. Langsam begannen seine beiden Persönlichkeiten zu verschmelzen und die Schmerzen, die er bisher immer durchlitten hatte, nahmen ab und wichen zunehmend einem Wohlgefühl. Es war schön. Er genoss es, dass sie ihn ausgewählt hatte. Und es beruhigte ihn. Er hatte endlich jemanden, auf den er sich verlassen konnte. Das hatte er jetzt verstanden. Die hübsche Kommissarin würde ihn nie fassen. Gemeinsam waren sie unschlagbar. Das hauchte sie ihm immer wieder in seine Gedanken. Und sie hatte recht. Das wusste er jetzt. Er vertraute ihr.
Es war das dritte Mal und niemand war ihm bisher auf die Schliche gekommen. Die Tarnung war perfekt. Sie würde ihn beschützen und er hörte ihre Stimme: Vertrau mir, hauchte sie. Und das tat er. Er und der Andere liebten sie beide.
War das so schlimm?
12
Sie saß an ihrem Schreibtisch. Ihr Plan würde funktionieren. Davon war sie überzeugt.
Was Hermann Gutenberg nicht wusste, war, dass Sie die zwei anderen Opfer kannte. Ove Arens hatte ein Muster gefunden und sie aufgespürt. Daraufhin haben Sie Spuren einer DNA gefunden, die mit der von Hermann Gutenberg übereinstimmte. Sie musste nur noch eine zweite, offizielle Probe von ihm bekommen, aber das würde kein Problem mehr sein. Bis dahin sollte er sich in Sicherheit wähnen. Den Wagen der Zivilbeamten vor seiner Tür, die ihn rund um die Uhr bewachten, hatte Hermann Gutenberg nicht bemerkt.
13
Hermann Gutenberg konnte tatsächlich als Serienmörder überführt und zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Der Aufenthalt in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik dauerte vier Jahre. Anschließend kam er in Sicherheitsverwahrung.
Die andere Stimme in ihm hatte ihn seit einiger Zeit verlassen. Doch man wusste nie, ob es für immer war, oder ob sie nicht doch eines Tages zurückkommen würde.
Bremerhaven-Gestemünde, An der neuen Doppelschleuse,
im März 2020
Nachwort des Autors
Diese kleine, sicherlich bizarre Geschichte, deren Handlung und Personen frei erfunden sind, ist im Kern am Wochenende des 14. März 2020 entstanden. Das war das Wochenende vor dem ersten coronabedingten Lockdown. Schizophrenie ist eine sehr ernstzunehmende Erkrankung, deren Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können.
Namen oder Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Bremerhaven mit seiner einzigartigen, sicherlich auch umstrittenen Hafenkulisse, dem einstmals größten zusammenhängenden Containerterminal weltweit sowie das herrliche Umland der Wesermündung waren Inspiration für die Kommissarin Sandra Wagner und Ort des Geschehens zugleich. Das ihr erster Fall mit einem psychopathischen Serienmörder zu tun hatte, dessen Erkrankung seinen Ursprung in der Kindheit hatte und zu dieser Art von Schizophrenie geführt hat, ist erfunden und rein zufällig. Schottwarden ist eine kleine Siedlung weniger Häuser, die zwischen dem Imsumer Ochsenturm und der kleinen Hafenstadt Wremen liegt.
Senden, im Mai 2022 Thomas Koepcke