Fataler Irrtum


Leseprobe

Lieutenant Frank Peter Gordan,

zuständig für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens,

steht kurz vor seinem größten Erfolg.

Was niemand weiß:

Er ist ein Uomo d´onore!

Ihr Teint und ihre Ausstrahlung: ein Traum,

ihre Haut und die fast schwarzen Augen: magisch,

wie von Künstlerhand geschaffen.

Unfassbar, wie schön sie ist!

Doch – sie ist eiskalt, und –

sie ist von Perfektion besessen.

Sie entscheidet über Leben und Tod.

Die Regeln für das Spiel jedoch schreiben

in Wahrheit andere!

Februar 2021

www.kurzerzaehlt.de

Copyright by © Thomas Koepcke

 

Prolog

Boris Jewtschenkov war fast am Ziel. Er wusste, dass sie gut vorbereitet war. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Und: Er war sich sicher, dass er kommen würde. Er war mittlerweile sein härtester Konkurrent. Und er war der, der seinen Plänen am ehesten gefährlich werden konnte. Ein ehrgeiziger Emporkömmling, brutal und ohne Format, hoch gefährlich! Juri Barka jun., genannt: “ Der Barbare“.

Anfangs war er skeptisch gewesen, ein ziemlich harter Brocken, doch als sie ihm klar gemacht hatten, dass der Preis nicht weniger als die Chance war, den großen Mann von der Westküste, den großen Boris Jewtschenkov, ein für alle Male auszuschalten, hatte er angebissen. Das jedenfalls sollte er glauben. Und deshalb hatte Boris Jewtschenkov sie ausgewählt.

Ein letztes Mal überprüfte sie ihre Ausrüstung. Alles war so, wie es sein sollte. Sie sah auf die Uhr. Dann fühlte sie mit der linken Hand an ihr rechtes Ohr.

„YA seychas ukhozhu!“ Ich fahre jetzt los!

„Zametano! – Verstanden“, sagte die Stimme am anderen Ende.

Sie löschte das Licht und man sah für einen Moment nur noch das Weiß in ihren dunklen Augen. Dann verließ sie die Lagerhalle durch die stählerne Seitentür.

 

1

Carmel-by-the-Sea, Kalifornien, 1997

Heißer Kaffee dampfte aus seiner Tasse, während Lieutenant Frank Gordan mit seinem Team die letzten Absprachen traf. Es war noch sehr früh am Morgen. Alle waren auf Position. Obwohl er angespannt war, hatte er nicht vergessen, warum er das alles tat. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er sich ausgerechnet jetzt, wo sie kurz davor waren, zuzuschlagen, an seine Kindheit erinnerte, wie er am Hafen gespielt oder den Fischern bei ihrer Arbeit zugesehen hatte. Er musste an seine Großmutter denken. Wie sie vor ihrer Haustür auf der kleinen, alten Bank saß und die ersten Sonnenstrahlen des Morgens genoss, während der von Tränen verschwommene Blick ihrer immer kleiner und im Alter immer schlechter werdenden Augen auf den kleinen Hafen von Castellammare del Golfo fiel. Wie sie seinen Brief in der Hand hielt, den er der Familie mit großer Regelmäßigkeit alle drei Monate schrieb und ihren Gedanken nachhing, die sich um nichts anderes als um die Familie drehten.

Il mio piccolo, so nannte sie ihn auch heute noch, obwohl er bereits fast Neun-unddreißig war und als Lieutenant bei der Polizei von Philadelphia als sehr angesehen galt. Er war Leiter einer Sondereinheit gegen das organisierte Verbrechen und ermittelte über die Bundesgrenzen hinaus.  Sie war sehr stolz auf ihn und das bedeutete ihm sehr viel. Immer und immer wieder las sie seine Briefe, denn es war mindestens zehn Jahre her, dass er zum letzten Mal in Sizilien war. Sie nahm ihm das nicht übel. Schließlich wusste sie, welche Verantwortung er für la famiglia übernommen hatte. Er war ihre große Hoffnung.

Es war alles vorbereitet. Drei Jahre hatte es gedauert, bis zu diesem Tag, bis heute. Für die meisten Menschen war es nur ein Samstag wie jeder andere. Doch für sie war es ein besonderer Tag. Sie hatten nur diese eine Chance und die würden sie nutzen. Die Falle, die er und sein Team ihm gestellt hatten, würde ein Meilenstein in der Geschichte der Bekämpfung des organisierten Verbrechens sein.

Denn: Nicht nur der große Mann von der Westküste, Boris Jewtschenkov, würde von der Bildfläche verschwinden, sondern auch der Barbare, Juri Barka, derzeit der wohl bedeutendste russische Kriminelle in den USA, der in die Fußstapfen des legendären Mafiabosses Jewtschenkov treten könnte. Dafür würde er sorgen.

2

Balaschicha, Sowjetunion, fünf Jahre zuvor

Es war ein bitterkalter Januar in Balaschicha, 1992, etwa fünfundzwanzig Kilometer östlich des Stadtzentrums von Moskau. Boris Jewtschenkov war ein Mann, der mit seiner bloßen Ausstrahlung Berge versetzen konnte. Er war nicht sehr groß, doch er besaß die Würde eines Mannes, der wusste, was er wollte. Er war wie sein Großvater einer der besten Diebe im Gesetz. Seinen Vater Viktor Jewtschenkov hatte Boris nicht gekannt. Er hätte einen Unfall gehabt. Da war Boris gerade sechs oder sieben Jahre alt, als seine Mutter das zu ihm sagte. Er sei gestorben. Dann sagte sie: Gott habe ihn selig. Mehr sagte sie nicht. An ihrem traurigen Blick jedoch erkannte er, dass das nur ein Vorwand war, um ihn zu schützen. Er sollte es glauben. Das war besser so. Dann wechselte sie das Thema.

Sie erzählte ihm von seinem Großvater Ivan Jewtschenkov. Geschichten aus dem Lager, in dem er inhaftiert war, in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, die hörte er am liebsten. Er bat sie immer wieder, davon zu erzählen. Es waren spannende Geschichten. Seine Mutter hatte die Fähigkeit, auch die traurigsten und dunkelsten Momente aus dieser Zeit hinter dem Glanz seines Großvaters zu verstecken. Geschichten, die seinen Großvater klug und mächtig erscheinen ließen. Heute wusste er, dass es eine harte Realität gewesen sein musste, damals, in den Lagern, die ganz Russland verändert hatte. Die Insassen hatten sich organisiert, hatten eine eigene Welt geschaffen, einen kriminellen Mikrokosmos, der ihre Rolle und ihre Stellung entscheidend verändert hatte, geduldet von den Hütern des Gesetzes. Sie hatten ein Arrangement mit den Aufsehern, für Ruhe und Ordnung unter den Gefangenen zu sorgen, und dafür erhielten sie Privilegien. So hatte alles angefangen, im Russland der zwanziger Jahre, und deshalb nannte man sie die ´Diebe im Gesetz´. Darauf war er, Ivan Jewtschenkov, sehr stolz.

Als Boris Großvater aus dem Lager entlassen wurde, hatte er die Grundstruktur für ein russisches Syndikat bereits gelegt. Er ging zurück nach Moskau. Dort hatte er Kontakte, viele Kontakte, in allen Schichten. Fünfzehn Jahre Gefangenschaft lagen hinter ihm, Zeit genug für Ivan Jewtschenkov, seinen Nutzen daraus zu ziehen.  Sie waren insgesamt sieben Männer, er, Juri Antonov Barka und fünf andere, alle aus demselben Lager. Sie hatten die Führung übernommen. Sie hatten die Gebiete unter sich aufgeteilt und beschlossen, zu expandieren, jeder in seine Richtung, und zwar mit aller Härte. Jeder blieb für sich. Die Grenzen waren klar definiert und wurden respektiert.

Seine Kontakte reichten bis in die höchsten politischen Etagen des Innenministeriums. Er kannte Leute in allen Ebenen der Polizei, die ihm zugewandt waren. Ebenso standen drei der fünf einflussreichsten Richter Moskaus auf seiner Seite. Der KGB ließ ihn gewähren, solange er sich an die Regeln hielt. Im Gegenzug sorgte er für Ruhe unter den einfachen Leuten, die ihn respektierten, und hielt die Kriminalität unter Kontrolle, wie damals in den Lagern. Jeder wusste, dass Ivan Jewtschenkov niemals vergaß, wenn er jemandem etwas schuldete. Im Guten, wie im Schlechten. Das war das ungeschriebene Gesetz der Straße, an das sich alle hielten. Diejenigen, die es nicht taten, waren irgendwann einfach verschwunden. Und das brachte ihm den nötigen Respekt ein. Die Regierung ließ sie gewähren, solange die Sieben sich an die Spielregeln hielten, und es nicht übertrieben. Das war die Garantie dafür, dass ihre Geschäfte florierten.

Dann kam der Krieg. Er brachte alles ins Wanken, veränderte alles. Ivan Jewtschenkov hatte mittlerweile ein großes Regime aufgebaut. Doch mehr als die Hälfe der Männer, die für ihn arbeiteten, wurden eingezogen. Es gab große Verluste. Doch er wäre nicht Ivan Jewtschenkov, wenn er nicht auch diese Situation zu seinen Gunsten zu nutzen gewusst hätte. Anpassungsfähig und flexibel erkannte er seine Möglichkeiten. Es gelang ihm sogar, seine Macht auszubauen.

Im Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende, kam sein Sohn Viktor zur Welt. Viktor wuchs behütet, aber vertraut mit den Regeln der Unterwelt auf. Er nahm ihn schon sehr früh in die Organisation auf, denn Viktor zeigte enormes Talent, sich in die Geschäfte seines Vaters einzuarbeiten. Sein Vater Ivan brachte ihm alles bei, was ein Mann des Syndikats in den Sechziger Jahren in Russland wissen musste. Schon früh übergab er ihm den Glücksspielsektor, den er bis dahin beherrschte. Er selbst konzentrierte sich von da an auf das Waffengeschäft, das kontinuierlich gewachsen war und mittlerweile seine Haupteinnahmequelle darstellte.

Doch Viktor hatte eine Eigenschaft, die ihm zum Verhängnis werden sollte. Er war leichtsinnig, zu leichtsinnig. Er missachtete wichtige Regeln, an die sich sein Vater immer gehalten hatte. Trotz mehrerer Warnungen des KGB ließ er sich auf Geschäfte mit dem Westen ein und wurde kurze Zeit später als vermeintlicher Spion verhaftet und in ein Lager nach Sibirien verschleppt, in dem er zwei Jahre später an einer Lungenentzündung starb. Selbst die guten Kontakte seines Vaters konnten dagegen nichts ausrichten.  Viktors Sohn Boris war zum Zeitpunkt der Verhaftung gerade erst drei Monate alt.

Beim KGB in Ungnade gefallen, zog sich Boris Großvater Ivan aus dem aktiven Geschäft zurück. Das war der Preis, den er für den Leichtsinn seines Sohnes Viktor und aus Rücksicht auf das Leben seines Enkels Boris bezahlen musste. Das war der Preis dafür, dass sie ihn in Ruhe ließen. Er bezahlte ihn. Doch er war sich sicher, dass Boris eines Tages zurückkommen und die Ehre der Jewtschenkovs wiederherstellen würde. Sollten sie in der Moskauer Lubjanka denken was sie wollten.

Und so war es auch. Boris Jewtschenkovs Großvater hatte alle Vorbereitungen getroffen, die es ihm ermöglichten, genau das zu tun, was Ivan sich für seinen Enkel gewünscht hatte, bevor er starb. Doch eins konnte auch der Großvater Ivan Jewtschenkov damals nicht ahnen, nämlich den Niedergang der Sowjetunion, der ihnen jetzt bevorstand.

Es war im Dezember 1991. Es war, als würde der Winter die ganze Sowjetunion in kleine Eiswürfel zerteilen, die in Unordnung geraten waren und eine neue Struktur brauchten. Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt genau, wie diese aussehen sollte, auch Michael Gorbatschow nicht. Boris, der sich inzwischen wieder einen Namen gemacht hatte, hatte es nicht leicht, seine Verbindungen zur Justiz bröckelten. Klar war nur, dass jetzt die Tür zum Westen offenstand, wer weiß, für wie lange. Und das war seine Chance.

Boris stand am Fenster seiner Dachia, etwas außerhalb von Balaschicha, blickte in die weiße Winterlandschaft hinaus und dachte an seinen Großvater Ivan. Bevor der FSK, der im Dezember 1991 dem aufgelösten KGB nachfolgte, ihn wegen der beiden Männer auf die Schliche kam, die erschossen aufgefunden wurden, und deren Mord man ihm zuschieben würde, musste er handeln. Er wusste genau, was er zu tun hatte.

Morgen würde er Moskau für lange Zeit den Rücken kehren und seine Stadt in Richtung Ostberlin verlassen. Doch das war nur eine Zwischenstation. Höchstens zwei Monate würde er brauchen, um seine Übersiedelung in die USA vorzubereiten. Er hatte einen Plan. Und: Er hatte gute Kontakte.

3

Carmel-by-the-Sea, Kalifornien

Boris Jewtschenkov war auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Als er vor fünf Jahren in die USA eingewandert war, hatte er ein Land vorgefunden, in dem Demokratie und Justiz jemandem wie ihm Tür und Tor öffnete. Nicht wie in seiner Heimat, in der man von heute auf morgen einfach von der Bildfläche verschwand und keiner es wagte, dagegen an zu gehen. Hier konnte man genauso wie in seinem Land mit ein bisschen Geschick die offiziellen Institutionen für sich arbeiten lassen, teilweise sogar, ohne dass diese es merkten. Man musste nur die Regeln kennen. Und wenn er eins in Russland gelernt hatte, dann das.

Fünf Jahre arbeitete er jetzt an diesem Netzwerk, dass hierzulande bald eines der größten dieser Art sein würde. Nur einmal, vor drei Jahren etwa, da war ihm dieser Lieutenant bedrohlich nahegekommen. Doch er und seine Anwälte hatten ihn mit samt seiner Anklage abblitzen lassen und der Lieutenant war Opfer der Justiz in seinem eigenen Land geworden, dort wo man so stolz auf die Demokratie und deren Rechtssystem war. Es waren ihre eigenen Regeln, nach denen er, Boris Jewtschenkov, seit einiger Zeit spielte und er beherrschte sie besser als dieser einfältige Lieutenant. Er würde ihm nie wieder so nahekommen. Dafür hatte er gesorgt. Er würde ihn leiden lassen.

Doch erst war Barka an der Reihe, den Lieutenant würde er sich anschließend vornehmen.

4

Philadelphia, Pennsylvania, zur selben Zeit

Samstag, 11.40 Uhr, Philadelphia Downtown. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen, so wie jeden Samstag um diese Zeit. Irgendwo in der mehrspurigen, sich gefühlt endlos dahinschleichenden Blechlawine hupte immer wieder irgendein Autofahrer, ohne erkennbaren Grund oder den Hauch einer Chance, dadurch schneller voran zu kommen, wahrscheinlich getrieben von der alltäglichen Ungeduld, wer wusste das schon. Niemanden schien das zu interessieren.

Die Menschen hasteten – versunken in der Anonymität der Großstadt – die Bürgersteige entlang, beladen mit Einkaufstaschen oder Aktenkoffern oder einem Coffee-to-go in der Hand.  Die meisten waren in ihren eigenen gedanklichen Mikrokosmos versunken, unterwegs in der Menschenmenge des Samstagvormittags, bis sie irgendwann, irgendwo wieder als einzelne Individuen aus der Menge hervortraten und plötzlich wieder einen Namen hatten, mit dem sie angesprochen wurden, sei es zuhause, auf der Arbeit oder bei Freunden. Unfassbar, wie viele Menschen sich – den Blick auf ihr Handy gerichtet – gleichzeitig ihren Weg durch die Menge bahnten, ohne jemand anderen anzurempeln. Sie begegneten sich, als folgten sie einer unsichtbaren Linie, Wege kreuzten sich, und doch schien kaum jemand größere Notiz von den zahlreichen Menschen um sich herum zu nehmen. Jeder ging seines Weges, so, als würde man einer mehr oder weniger intuitiven Spur folgen. Er verstand bis heute nicht, wie man so leben konnte. Es würde ihn wahnsinnig machen.

Eine Schar Tauben flatterte hoch. Ein kleiner, verspielter, schwarz-weiß-brauner Hund, offensichtlich noch ein Welpe, hatte sie aufgescheucht. Kaum dass der Kleine mit seinem Frauchen, einer gedrungenen, alten Dame mit faltigem, aber sanften Gesichtsausdruck, weitergegangen war, landeten sie wieder an der gleichen Stelle, um sich erneut den Resten zu widmen, die die Menschen dort hinterlassen hatten.

Der Mann, der nicht sehr groß war und dazu noch unförmig wirkte, schien seine beste Zeit hinter sich zu haben. Sein Gesicht war aufgedunsen, seine Kleidung jedoch elegant. Für seine Größe war er zu dick.  Er trug einen Hut, den er ins Gesicht gezogen hatte. Dennoch lehnte er lässig wie ein Zwanzigjähriger an dem Kameramast auf dem John F. Kennedy Plaza, etwa fünfzehn Meter entfernt von den zahlreichen, orangefarbenen Metallstühlen, von denen die meisten noch leer waren. Er sah angestrengt aus und so fühlte er sich auch. Seine Leute waren über den Platz verteilt und schirmten ihn ab. Sie hatten sich ausreichend abgesichert.

Die Frau am Telefon war überzeugend. Sein Blick fiel auf die Wasserfontänen, die allabendlich von Scheinwerfern in ein wunderbares Licht getaucht wurden, und für den Moment bemüht waren, die Atmosphäre des großzügigen Platzes, der bis vor zehn Minuten noch in das schattige Grau des bewölkten Vormittags getaucht war, mit ihrer weißlichen Gischt zu erhellen. Er bemühte sich, unauffällig die Umgebung zu beobachten, was ihm leidlich gelang. Das vietnamesische Sandwich, dass er sich an dem Imbisswagen gekauft hatte und in der Hand hielt, war mittlerweile kalt geworden. Er hatte nicht ein einziges Mal abgebissen. Er hatte keinen Hunger. Ja, er hasste es sogar, zumindest in diesem Moment. Das mittlerweile von Fett durchtränkte Papier, in das es eingewickelt war, klebte an seinen Fingern, einfach ekelig.

Die Informationen, die ihm die Frau am Telefon versprochen hatte, könnten ein Vermögen wert sein, daran bestand kein Zweifel. Und: Sie wirkte glaubwürdig. Deshalb waren sie auf den Deal eingegangen.

11.41 Uhr. Er sah auf die Uhr. Sie waren um elf Uhr fünfundvierzig verabredet, ihm blieben noch vier Minuten. Die Sonne bahnte sich langsam ihren Weg durch die noch weitgehend grauen Wolken und ließ den Tag mittlerweile schöner erscheinen, als er begonnen hatte. Vielversprechend, abgesehen von der Hektik und dem Krach der Stadt, beides ging ihm mächtig auf die Nerven. Er hasste Großstädte. Er hasste diese Situation, die ihn zum Bittsteller machte, doch was sollte er machen. Er brauchte diese beschissenen Informationen.

Ohne es bewusst zu tun, nahm er seine Sonnenbrille ab, steckte sie lässig in sein Revers, kniff, vom plötzlichen Licht geblendet, die Augen zusammen und sah erneut auf die Uhr. Die starken Ränder unter seinen Augen deuteten auf zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf hin. Dazu machte ihm auch noch seine Migräne zu schaffen. Sie dauerte jetzt schon zwei Tage an. Er griff mit der freien Hand in die Jackentasche, fummelte etwas umständlich eine Tablette aus dem Blister und steckte sie in den Mund. Angewidert von dem bloßen Anblick biss er in das kalte, fettige Sandwich, das er eben noch vehement verschmäht hatte, und würgte beides herunter. Er fluchte heftig in sich hinein und ärgerte sich über sich selbst. Doch es half nichts. Nervös zog er seine Sonnenbrille aus dem Revers und setzte sie wieder auf. Dieser stechende Schmerz hinter seinen Augen musste endlich aufhören. Er sah kurz zu Boden, um ihnen eine kleine Erholungspause zu gönnen und genoss die eintretende, aber nur kurzweilige Entspannung. Dann sah er wieder auf und hatte große Mühe, sich von alledem nichts anmerken zu lassen. Er musste sich verdammt nochmal konzentrieren.

11.42 Uhr. Würde sie kommen? Er wusste es nicht. Wie sah sie aus? Auch das wusste er nicht. Was wusste er eigentlich? Dem Telefonat nach zu urteilen deuteten Stimme und Ausdrucksweise auf eine gebildete Dame mittleren Alters hin. Er erinnerte sich: Sie hatte diese besondere Stimme, die etwas Magisches an sich hatte, mit der man Menschen verzaubern konnte. Doch nicht ihn, oder etwa doch? Er war auf der Hut, schon sein ganzes, verdammtes Leben lang. Das wusste er genau, aber über sie wusste er nichts. Keine gute Position, in der er sich da befand. Doch sie wusste das eine, von dem kaum jemand sonst wusste. Sie kannte seinen Großvater und wusste von einer Begegnung zwischen ihm und Jewtschenkov aus den Achtzigern, von der nur sehr wenige wussten. Sie wusste von Magdalena. Das hatte ihn überzeugt. Denn davon wusste sonst nur Boris Jewtschenkov.

*

Sie dagegen kannte ihn sehr genau. Sie hatte ihn drei Monate lang studiert, seit sie für ein wundervolles Wochenende in sein Leben getreten war, kannte seinen Tagesablauf, seine Gewohnheiten und Eigenheiten, jeden seiner Schritte, hatte seine Villa mit Kameras und Mikros verwanzt, hatte die gesamte innere Organisation untergraben. Sie wusste genau, wie er sich im Alltag verhielt, und: Sie hatte ihn da, wo sie ihn hinhaben wollte, im Visier ihres Präzisionsgewehrs…

Senden, im Februar 2021                                       Thomas Koepcke