Fiete und sein Freund Johann
Weihnachtsgeschichte
Autor: Thomas Koepcke
Heute ist ein besonderer Abend. Friedlich und zuweilen andächtig lässt er die Menschen langsam zur Ruhe kommen und offenbart ihnen eine lange, glitzernde Nacht. Es ist der wohl festlichste Winterabend des zu Ende gehenden Jahres, den große Kinderaugen seit ewigen Zeiten herbeisehnen, in der Hoffnung, reich beschenkt zu werden. War es einst der Vorabend von Christi Geburt, so ist es längst ein Fest der Familien, im Geiste friedlicher Gemeinschaft, auch wenn es in diesem Jahr für die meisten Menschen anders ist.
Hier beginnt die kleine Geschichte. Sie erzählt von der Sorge eines kleinen, siebenjährigen Jungen namens Fiete, und seiner Freundschaft zu einem liebevollen, etwas griesgrämigen alten Mann, der Johann hieß. Johann wohnt in der Nachbarschaft von Fiete und dessen Familie in einem kleinen Holzhaus, an einem ebenso kleinen See. Beide hatten auf ihre Weise mit den Herausforderungen des Lebens zu kämpfen, wie jeder andere auch, obwohl ihr Leben – von außen betrachtet – so einfach und idyllisch wirkte. Und so lautet nun die kurze Episode von Fiete, dem kleinen Jungen, und seinem Freund, dem alten Johann:
Es ist der 24. Dezember. Die unaufhaltsam fortschreitende Zeit hatte das Licht des kurzen, von letzten Vorbereitungen reichlich bemühten Tages in dem kleinen Dorf an dem ebenso kleinen See gegen die frostig knisternde Dämmerung des feierlichen Vorabends getauscht und dem kleinen, ruhigen Ort mit seinem weißlichen Schleier ein friedliches Antlitz verliehen.
Der Dreiviertelmond leuchtete ungewöhnlich hell, als würde er dem besonderen Anlass entsprechend heute sein Bestes geben. Er spiegelte sich auf wundersame Weise in dem kleinen See wider. Man könnte meinen, er gäbe sich heute Abend besonders viel Mühe, um das kleine Holzhaus des alten Mannes im Glanz des Abends erscheinen zu lassen und ihm damit eine Freude zu machen. Der Himmel hatte sich von den trüben, grauen Regenwolken der vergangenen Tage befreit und war bis auf ein paar weiße Wölkchen sternenklar. Es ist der Heilige Abend.
Drinnen saß der alte Johann in seinem Sessel und genoss das gelbrote Funkeln der Flammen, die fröhlich züngelnd um die kreuz und quer im Kamin aufgestapelten Holzscheite herum knisterten und den gemütlichen Raum zuweilen in ein melancholisches Zwielicht versetzten. Von seinem Platz aus konnte er durch das große, tiefliegende Fenster auf den See blicken. Seitlich versetzt sah er den Weihnachtsbaum stehen, den der Nachbarsjunge Fiete für ihn geschmückt hatte und dessen Lichter sich zusammen mit den Sternen tanzend auf der Oberfläche des kleinen Sees tummelten.
Ein Knarzen, dass ihm sehr vertraut vorkam, ließ ihn aufhorchen. Jemand klopfte an die Tür. Der ein wenig müde und etwas grimmig dreinschauende Alte zog die Augenbrauen hoch und drehte den Kopf zur Tür.
Quietschend und polternd wurde sie geöffnet. Für einen kurzen Augenblick hätte man meinen können, ein Lächeln wäre dem Alten über die Lippen gekommen, als eine Kinderstimme rief:
„Johann, bist du da?“
Der Alte schloss nie ab. Wozu? Er war es nicht gewohnt. Außer früher vielleicht, wenn er hin und wieder seine Verwandten besucht hatte, aber das war schon sehr lange her. Mittlerweile lebten seine Schwestern und Brüder – fünf an der Zahl – nicht mehr. Bei den einen war es der Preis für ihre Art zu leben, bei anderen eine Krankheit und bei wieder anderen das Alter. Nur er war noch übriggeblieben. Meistens war er froh darüber, denn er liebte das Leben, so, wie es war, jeden einzelnen Tag. Er hatte beschlossen, sich darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Es war ohnehin sinnlos.
Aus dem Flur war das Knarzen der Dielen zu hören.
Johann räusperte sich, ölte seine in die Jahre gekommene, etwas heisere Stimme und antwortete:
„Na, wo denn sonst? … Fiete? Bist du das, Junge?“
„Na klar, wer sonst?“
Das war also geklärt. Jeder hatte gesagt, was er immer sagte, in solchen Momenten. Der Junge, wenn er vorbeikam, sobald er die Tür öffnete, die nie abgeschlossen war und der Alte, wenn er ihn diesen Satz sagen hörte. Er hätte mit Worten niemals ausdrücken können, was er in diesen Moment empfand. Es war ihr gemeinsames Ritual. Und es war schön.
Johann saß zufrieden in seinem Sessel, als Fiete mit einem schweren Korb in der Hand in die nur vom Funkeln des Kaminfeuers beleuchte, wohlig warme und gemütliche Stube trat.
„Hab gar nicht gemerkt, wie es dunkel geworden ist“, murmelte Johann.
„Hast wohl ein Nickerchen gemacht, wie?“ fragte Fiete.
Es war wie in einem Konzert, wenn der Alte mit seiner tiefen Stimme gurgelnd und ein wenig heiser auf die kindliche Stimme des Jungen antwortete.
„Na mein Junge, was bringst du da Schönes?“
„Von Mama…, sie lässt schön grüßen, …soll ich dir sagen, …hat sie gesagt.“
„Dann grüß sie schön zurück von mir. Danke.“
„Ja, ja, mach ich schon.“ –
Ein herzhafter Duft eroberte langsam den kleinen Raum, bereit, Johann den Kopf zu verdrehen.
„Ich hab´ dir etwas zu Essen mitgebracht. Mama hat es gemacht und du weißt, sie ist die beste Köchin der Welt.“
Johann lächelte mit seinen etwas müden Augen, so gut er konnte.
„Weißt du, Fiete“, sagte er etwas zögerlich, „das ist sehr lieb von deiner Mutter und von dir natürlich auch, aber wenn ich ehrlich bin, hab ich gar keinen richtigen Appetit.“
„Ach“, antwortete Fiete gelassen, „das sagst du jedes Mal. Mach dir nichts draus. Riechst du nicht, wie es duftet? Und Pudding hab´ ich dir auch mitgebracht. Schokoladenpudding, den hab´ ich selbst gerührt. Willst du dir das etwa entgehen lassen?“
Johann schmunzelte.
„Na, wie könnte ich da ´Nein´ sagen“, antwortete er schließlich und seine Augen glänzten vor Freude über die Unbeschwertheit des kleinen Bengels.
„Komm nur, steh endlich auf, du hast lange genug rumgesessen. Sonst wirst du noch ganz steif. Du wirst es nicht bereuen. Versprochen.“
Der Alte zögerte einen Moment, bis er seine Trägheit überwunden hatte und grummelte zufrieden:
„Na, wenn du das sagst, dann will ich mal, nicht wahr?“
Er nahm Anlauf und hievte seinen dünnen, etwas kraftlosen Körper ein wenig mühselig aus dem Sessel, und obwohl dies so war, nahm Fiete – ohne groß nachzudenken – wahr, wie gleichermaßen würdevoll Johann das tat. Der Junge bewunderte ihn dafür. Er mochte den Alten, so, wie er war. Schließlich waren sie Freunde. Außerdem hatte Johann ihm das Schnitzen beigebracht, und das Angeln. Er sah ihm zu, wie er seine Decke zur Seite legte, die er über seinem Schoß liegen hatte, und so aufrecht er konnte, gemütlich und freudestrahlend zu dem kleinen Esstisch schlurfte. Er hatte sich schick gemacht. Eine dunkle Stoffhose angezogen, dazu ein frisches weißes Hemd und darüber natürlich seine Lieblingsweste. Auf die wollte er nicht verzichten, auch nicht am Heiligen Abend.
Fiete deckte den Tisch. Er legte Messer und Gabel neben den Teller auf das Set, das dort immer lag, faltete eine Papierserviette mit Weihnachtsmotiven, legte einen Dessertlöffel für den Pudding dazu, holte ein Glas aus dem Schrank und zu guter Letzt nahm er eine kleine dicke rote Kerze aus dem Korb, die ihm seine Mutter eingepackt hatte. Er stellte sie auf ein Holzbrett, zündete sie etwas umständlich an und legte zwei saftige kleine Tannenzweige daneben.
„Soll ich dir ein Bier aufmachen?“
„Wenn du mich so fragst“, sagte Johann, als er sich gesetzt hatte. Jetzt lief auch ihm das Wasser im Mund zusammen, angesichts des würzigen Bratenduftes, des Rotkohls, der eine dezent an warmen, süßlichen Apfel erinnernde Note verströmte und der himmlisch dampfenden Klößchen, obwohl sein Magen wie zugeschnürt wirkte.
„Im Kühlschrank ist noch etwas Saft. Und dort auf dem Teller sind Plätzchen. Nimm dir, wenn du möchtest.“
„Nein danke, bei uns gibt es auch gleich Essen. Ich soll vor dem Essen nicht so viel naschen, sagt Mama.“
Johann seufzte und verkniff sich, was ihm eigentlich durch den Kopf ging. Stattdessen antwortete er:
„Dann nimm etwas mit, für später, was meinst du?“
„Das mach ich gerne. Danke.“
Entzückt vom Anblick des reichlich gefüllten Tellers seufzte der alte Mann zufrieden und sah zu Fiete, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Esstischchens stand und dessen Miene sich verändert hatte. Er hatte den Blick nach unten gewandt und sah jetzt ein wenig nachdenklich aus. Johann glaubte, einen Anflug von Traurigkeit darin zu erkennen. Irgendetwas schien ihm auf der Seele zu liegen.
Es verging ein Moment, in dem beide schwiegen.
„Was beschäftigt dich? Bist du traurig?“, fragte der Alte schließlich.
Fiete sah auf und spürte die beruhigende Sanftheit, wie sie nur Johann ausstrahlen konnte, so als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Das machte ihm Mut und er fasste sich ein Herz. –
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Nur zu.“
„Weißt du, die anderen Kinder, sie lästern, sie sagen, du seist ein einsamer, alter Greis, und du würdest sowieso bald sterben.“
Fiete sah den alten Mann mit dem sorgenvollen Blick eines unschuldigen Kindes an, der einen Hauch von Unsicherheit in sich barg. Er versuchte, in dem Gesicht des Alten zu lesen. Jetzt konnte man für den Moment nur das Knistern des Kaminfeuers hören, so still war es in der Stube.
„Und was denkst du?“ fragte Johann schließlich mit ernster Miene zurück.
„Na, ein alter Mann bist du ja wohl, oder etwa nicht?“
Große, dunkle Kinderaugen sahen den Alten jetzt an und es war die Unbedarftheit, die Ehrlichkeit und die Aufrichtigkeit des Jungen, die Johann in sein Herz geschlossen hatte.
In seinem faltigen, etwas matten, vom Winter blassen Gesicht war jetzt ein Anflug von Verschmitztheit zu erkennen. Er räusperte sich, um seine Unsicherheit gegenüber dem Jungen zu überspielen und antwortete schließlich mit einem Schmunzeln auf den Lippen:
„Mag sein, dass die anderen Kinder recht haben, vielleicht auch nicht. Aber ich will dir was sagen: Wenn man alt wird, wird man zwangsläufig etwas…, na sagen wir mal: brummig oder griesgrämig, wie auch immer, das passiert einfach, ob man will oder nicht. So ist es zumindest bei mir. Man kann nur hoffen, dass es nicht zu schlimm wird.“
„Weißt du, wenn man alt wird,“ setzte er fort, „vergisst man Sachen. Manchmal hat man keine Lust abzuwarten, oder sich an Regeln zu halten, die einem früher wichtig waren. Manchmal fehlt einem die Geduld oder das nötige Feingefühl. Tut mir leid, wenn das manchmal so sein sollte. Nimm es mir bitte nicht übel. Und sterben, müssen wir alle irgendwann mal, früher oder später.“
„Denkst du schon mal darüber nach?“
„Ab und zu, schon, aber nicht allzu oft. Lass dir von den anderen Kindern nichts einreden, hörst du?“
„Nein, nein“, sagte Fiete jetzt zufrieden, „mach ich nicht. Ich hab auch schon mal schlechte Laune, sagt Mama jedenfalls. Dann bin ich auch nicht immer nett, oder wenn ich Streit mit jemandem habe, oder so. Das ist ja auch nichts anderes, oder?“
„Ja, so ungefähr, da hast du recht“, antwortete Johann und nickte anerkennend.
Beide schwiegen für einen Moment und wieder war nur das Knistern des Kaminfeuers zu hören. – Da war noch etwas anderes, was den Jungen beschäftigte.
„Bist du einsam?“ fragte er Johann.
Auch dieses Mal überlegte der Alte erst einmal, bevor er antwortete.
„Na ja, weißt du, ich lebe zwar alleine“, antwortete er schließlich, „aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich einsam fühle. Außerdem habe ich ja einen guten Freund wie dich, oder etwa nicht?“ Jetzt hatte er wieder diesen schelmischen Gesichtsausdruck, den der Junge so an ihm mochte, und er lächelte.
Fiete lächelte zurück und war sichtlich zufrieden mit Johanns Antwort. Schließlich griff er noch einmal in den Korb und holte zwei kleine Holzfiguren hervor, die er für seinen Freund geschnitzt hatte, und die er freudig auf den Tisch stellte.
„Sieh´ mal Johann, das bist du und das bin ich.“
Johann lächelte und bekam feuchte Augen. Fiete ging um den Tisch herum, drückte seinen Freund, und machte sich zufrieden auf den Weg zurück nach Hause.
„Frohe Weihnachten, Johann. Und lass es dir schmecken.“
„Frohe Weihnachten, Fiete. Und danke, dass du vorbeigekommen bist.“
Es tat gut, einen Freund zu haben.
Senden, im Dezember 2023